Es passiert ganz unvermittelt, ohne Vorwarnung. Plötzlich saust Nikolais Stirn runter auf das große Spielzeugflugzeug in seiner Hand. Er trifft es genau an der Stelle, an der sich eine große Beule dunkelrot abzeichnet. Einmal, zweimal haut sich der 21-Jährige das Flugzeug an die Stirn. Dann nimmt Gabriele K. ihm das Spielzeug aus der Hand. Nikolai lässt es geschehen. Er geht in sein Zimmer, um ein neues Fluggerät zu holen. Als wäre nichts passiert.
Die Beule werde nie mehr verheilen, ihr Sohn verletze sich regelmäßig selbst, erzählt Gabriele K. Wenn ihm langweilig sei, sei es besonders schlimm. „Dann haut er sich auf die Stirn“, sagt die 62-jährige Stuttgarterin. Gerade sind Sommerferien. Entsprechend ist Nikolai oft langweilig.
Mutter ist rund um die Uhr mit Sohn zuhause
Seine Mutter wiederum ist im Dauereinsatz. Nikolai hat eine Autismus-Spektrums-Störung. Die zeigt sich bei ihm nicht nur an seinem ausgeprägten Interesse an Fluggeräten und Zügen aller Art. Nikolai kann schreien, aber nicht sprechen. Vor allem läuft er weg und kann Gefahren nicht einschätzen. Weil er zu groß ist, als dass sie ihn festhalten könnte, geht Gabriele K. mit ihrem Sohn nicht mehr alleine raus. „Ich bin 24 Stunden mit ihm eingeschlossen zuhause“, schildert sie ihr aktuelles Leben. Nur Nikolais Vater traue sich, mit ihm etwas zu unternehmen. Sie leben aber getrennt und er arbeitet.
Seit Monaten kreisen die Gedanken der Mutter um die gleichen Fragen: Wird Nikolai in Zukunft noch am Leben teilhaben können? Wie sieht ihr eigener Alltag aus, wenn er die Schule verlässt? Wie lange wird sie wohl zuhause mit ihm „eingesperrt“ sein?
Ende Juli hatte Nikolai seinen letzten Schultag an der Margarete-Steiff-Schule, einem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum in Stuttgart mit Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Er war zwei Jahre länger als üblich dort. Der Grund: Wegen seiner Weglauftendenzen fand sich zunächst keine Einrichtung der Behindertenhilfe, die ihn aufnehmen wollte. Der Übergang in den „nachschulischen Bereich“ gestaltet sich immer wieder holprig für Familien von Kindern mit Behinderung. Aber Nikolais Fall sticht heraus.
Für ihn komme nur der Förder- und Betreuungsbereich infrage, wo es vergleichsweise wenig Plätze gebe, so seine Mutter. Er sei zu stark beeinträchtigt für eine klassische Behindertenwerkstatt. Auch in der Fördergruppe benötige er aber eine Begleitung – wie zuvor in der Schule. Dort hatte ein Schulbegleiter Nikolai stets im Auge, der sofort den Raum verlässt, wenn es ihm zu laut wird.
Nikolai liebt Flugzeuge, aber verletzt sich auch an ihnen. Foto: LG/Max Kovalenko
Die Verabschiedungsfeier an der Schule war für Gabriele K. emotional belastend. Mit wem sie auch sprach, alle hatten einen Anschlussplatz fürs Kind – auch Familien, deren Kinder stärker beeinträchtigt seien als ihr Sohn. Und bei Nikolai? Stand zu dem Zeitpunkt alles wieder auf der Kippe. Zwar hat auch sie mit den Neckartalwerkstätten der Caritas endlich eine Einrichtung gefunden, die ihn aufnehmen würde – aber natürlich nur mit Begleitung.
Integrationshelfer im Förder- und Betreuungsbereich werden jedoch kaum bewilligt. „Es ist tatsächlich eine seltene Ausnahme, dass eine Person in der Fördergruppe zusätzliche Fachleistungsstunden erhält“, heißt es dazu auf Anfrage von der Pressestelle der Stadt. Zum Stichtag 30. Juli hätten nur vier Personen solche zusätzlichen Stunden erhalten, bei denen das Sozialamt Kostenträger war. In der Regel seien die im Pauschalsatz Fördergruppe enthaltenen Leistungen ausreichend, so die Auskunft.
Gabriele K. musste lange um die Bewilligung bangen und um den Platz für Nikolai. 150 Stunden im Monat hatte sie im Dezember 2024 für die Begleitung ihres Sohnes beim Sozialamt beantragt. 85 Stunden standen zwischenzeitlich im Raum, wodurch der Platz wieder gefährdet war. 103 individuelle Assistenzstunden sind nun nach Auskunft der Stadt bewilligt worden – in Abstimmung mit der Caritas. Zuvor hatten sich die städtische Beauftragte für Menschen mit Behinderung und unsere Zeitung eingeschaltet.
Der erste Klient mit permanenter Eins-zu-Eins-Betreuung
Nikolai kann also Mitte September in einer Fördergruppe der Neckartalwerkstätten starten – erstmal auf Probe bis Ende Oktober. Aufgrund des „außergewöhnlich hohen Aufwands“ habe das Amt für Soziales in Aussicht gestellt, den Bedarf zeitnah zu überprüfen, so der zuständige pädagogische Leiter bei der Caritas, Eckhard Juwig. Sie hofften, dass „die zeitintensive Begleitung – und damit die wichtige Entlastung für die Familie“ fortgeführt werden könne. Nikolai sei der erste Klient der Neckartalwerkstätten „mit einer permanenten Eins-zu-Eins-Betreuung“.
Gabriele K., die kurz vor dem Zusammenbruch stand, ist nun „ein bissle“ erleichtert. Sie fragt sich zwar, wie es mit 103 Stunden beziehungsweise knapp fünf Stunden am Tag praktisch laufen soll, schließlich sei nicht der ganze Tag abgedeckt. Aber sie ist froh, dass Nikolai im September starten kann. „Es geht in die richtige Richtung“, sagt sie. Zumindest eines hat der Kompromiss schon bewirkt: Sie könne nun besser schlafen. Ihr Kollaps ist abgewendet – vorerst.
Mehr Betroffene, zu wenig Angebote
Entwicklung
Die Zahl der Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung (ASS) steigt seit Jahren weltweit an. Wie die Oberärztin Barbara Ladwig vom Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) des Olgahospitals des Klinikums Stuttgart kürzlich im Beirat für Menschen mit Behinderung darlegte, hätten 1966 nur rund 5,5 von 10 000 Menschen die Diagnose erhalten. 2016 dann einer von 100 und 2024 zwei Prozent. In den USA liege der Wert bei drei Prozent der Achtjährigen.
Rückmeldung
Auch in der Behindertenhilfe der Caritas merkt man diese Entwicklung. Die Anzahl junger Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung nehme stark zu, so Juwig. In einer regulären Werkstatt könne man ein bis zwei Personen mit ASS in einer 12-er Gruppe aufnehmen. „Da ist also ein wachsender Bedarf, der im Moment kaum gedeckt werden kann“, berichtet Juwig. Insgesamt nähmen psychische Erkrankungen und damit einhergehend herausforderndes Verhalten bei der Zielgruppe „deutlich zu“.