„Das kann doch nicht deren Ernst sein?“, fragt sich ein Berufspendler angesichts der Menschenmassen an den Bahnsteigen und in dem einfahrenden Zug. „Wie kann man denn nur einen solchen Zug einsetzen, wenn man weiß, dass das Angebot derzeit sowieso sehr ausgedünnt ist?“ Wie dem erfahrenen Fahrgast ergeht es vielen derzeit. Von der Sperrung der sogenannten Stammstrecke der S-Bahn, dem Tunnel zwischen dem Stuttgarter Hauptbahnhof und Vaihingen, sind alle Linien in der Region betroffen. Aber in diesem Jahr ganz besonders die Strecke in Richtung Rems- und Murrtal, da gleichzeitig umfangreiche Bauarbeiten am Bahnhof Bad Cannstatt anstehen.

Szenen wie in Tokio

Seit Beginn der Stammstreckensperrung Anfang vergangener Woche kommt es zu Szenen, die man so eigentlich aus der japanischen Metropole Tokio als aus der schwäbischen Landeshauptstadt kennt. Auch an diesem Spätnachmittag stehen weit mehr als 100 Fahrgäste auf Gleis 7 am Cannstatter Bahnhof und warten auf die Möglichkeit, ihren Heimweg antreten zu können. Als der Zug endlich einfährt, bilden sich riesige Trauben vor den Eingangstüren, während im Abteil bereits nichts mehr geht. Eingepfercht stehen die Fahrgäste dicht gedrängt. Was zu Tokio noch fehlt, ist einzig das Personal, das die Menschen noch von hinten mit Körperkraft in den Zug drückt. So schaffen es letztlich nicht alle hinein. Vielmehr ertönt über die Lautsprecher die Durchsage der Lokführerin, dass einige Passagiere wieder aussteigen sollten, weil die Bahn völlig überladen sei und deshalb eine Weiterfahrt nicht möglich sei.

Einige wenige erbarmen sich tatsächlich und gesellen sich zu den Zurückgebliebenen auf dem Bahnsteig. Notgedrungen. Besonders betroffen von den überfüllten Zügen sind vor allem Eltern mit Kinderwagen oder Radfahrer. An der Anzeigetafel am Bahnhof wird zwar bereits darauf hingewiesen, dass aufgrund der Platzverhältnisse die Mitnahme von Rädern nicht gewährleistet werden könne, aber „mit Service am Kunden hat das nichts mehr zu tun“, ist ein Radfahrer sauer. Denn das sei bei weitem kein Einzelfall, vielmehr derzeit die absolute Regel. „Das bedeutet nunmehr, dass ich mindestens eine halbe Stunde länger nach Hause benötige“, ärgert sich eine junge Mutter. Denn auch die angekündigten S-Bahnen in Richtung Schorndorf fallen zum Teil aus.

Ansturm auf Regionalbahnen

Seit Anfang vergangener Woche gilt die Sperrung der sogenannten Stammstrecke. „Eine zusätzliche Herausforderung ist, dass dieses Mal gleichzeitig auch Umbaumaßnahmen in Bad Cannstatt durchgeführt werden“, erklärt ein Bahnsprecher. Auf den sonst für den S-Bahnverkehr genutzten Bahnsteigen 1 bis 4 laufen vorbereitende Maßnahmen für die im kommenden Jahr für Stuttgart 21 notwendige Verschwenkung der Gleise auf die neue Eisenbahnbrücke über den Neckar. Daher verkehren die Züge der S 3 (aus Backnang) lediglich bis Fellbach, von dort gibt es einen Busersatzverkehr nach Bad Cannstatt. Zudem halten die Züge der S 2 nicht in Sommerrain und der Nürnberger Straße. Wie alle S-Bahn-Linien verkehren diese nur im 30-Minuten-Takt. Umso mehr ist der Ansturm auf die Regionalbahnen groß.

Die kurzen Züge enden bereits kurz hinter den Anzeigetafeln. Die Folge: Fahrgäste müssen am Bahnsteig zurückbleiben. Foto: Alexander Müller

Offenbar ist das zu viel – und von der Bahn auch hausgemacht. Der Ärger der Fahrgäste entzündet sich vor allem daran, dass gerade jetzt oftmals nur Kurzzüge im Einsatz sind, obwohl im Vorfeld zugesichert wurde, dass gerade während der Streckensperrung mit maximaler Kapazität gefahren werde. Über genügend Erfahrung müsste die Bahn jedenfalls verfügen, schließlich ist die Stammstrecke der S-Bahn nunmehr bereits im fünften Jahr in Folge während der Sommerferien gesperrt. Der Grund für die kurzen Züge: „Aufgrund kurzfristiger Probleme befinden sich einige Fahrzeuge derzeit zur Reparatur in der Werkstatt“, erklärt der Bahnsprecher und betont, „es handelt sich aber nicht um eine routinemäßige Wartung“. Vielmehr sei man von der Entwicklung selbst überrascht worden.

Verschärft habe sich die Lage Ende vergangener Woche zusätzlich durch technische Probleme auf der Strecke. So habe eine Weichenstörung am Donnerstag und eine Signalstörung am Freitag zwischen Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof den Fahrplan auf dem gesamten Streckennetz der S-Bahn Stuttgart durcheinandergebracht. Dennoch müssten die Fahrgäste auf der Murr- und Remstalbahn nicht die gesamten Sommerferien über – die Sperrung der Stammstrecke ist bis 6. September geplant – mit diesen Missständen leben. „Die reparierten Züge werden bis Ende der Woche wieder eingesetzt, und dann für ein erweitertes Platzangebot sorgen“, verspricht der Bahnsprecher – die überfüllten Züge sollen dann Geschichte sein.