Erst kürzlich ist Bernhard Claus in einen auf dem Gehsteig geparkten E-Scooter gelaufen und hat sich die Rippen geprellt. Claus ist beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) für Barrierefreiheit zuständig. Er weiß, wie gefährlich die teils kreuz und quer abgestellten elektrischen Leihroller für sehbehinderte Menschen sein können. Und obwohl die Stadt sich bemüht, das Chaos mit den Rollern in den Griff zu bekommen, habe sich bisher nichts verbessert, sagt er, „eher verschlimmert“.
Denn die Roller werden immer mehr: Fast 20 000 davon gibt es aktuell in München, erst seit Kurzem ist der Anbieter Bird mit 3000 Fahrzeugen zurück in der Stadt, nachdem er sich schon kurz nach der Einführung der Roller 2019 wieder zurückgezogen hatte. Von Beginn an sind die E-Scooter ein Ärgernis, sie stehen oder liegen auf Geh- und manchmal auch auf Radwegen. Bernhard Claus kennt sogar einen Fall, bei dem ein Sehbehinderter vor drei Jahren über einen Scooter auf der Treppe zur U-Bahn stolperte und sich dabei schwer an beiden Knien verletzte.
Im Zentrum, innerhalb des Altstadtrings, habe sich die Situation durchaus verbessert, räumt Claus ein. Hier dürfen die Roller nur noch auf 39 offiziellen Stellplätzen geparkt werden. Die Unternehmen haben sich nach Angaben des Mobilitätsreferats freiwillig dazu verpflichtet, ihre Flotten zu begrenzen. So dürfen pro Anbieterfirma gleichzeitig 1000 Fahrzeuge innerhalb des Mittleren Rings und 100 innerhalb des Altstadtrings angeboten werden.
Innerhalb des Mittleren Rings hat die Stadt inzwischen 340 Abstellflächen eingerichtet, für das gesamte Stadtgebiet sind 675 geplant. In einem Radius von 100 Metern rund um die Scooter-Parkplätze ist die Beendigung der Miete technisch nicht möglich. Zudem müssen Nutzer bei der Rückgabe ein Foto des Rollers in der App hochladen, eine künstliche Intelligenz (KI) soll dann bewerten, ob er ordnungsgemäß geparkt ist.
Doch die KI übt noch. Bislang gibt es selten Einwände, wenn der E-Scooter zu weit in den Bürgersteig ragt. Nach Angaben der Anbieter und des Mobilitätsreferats soll die Technik aber in absehbarer Zeit besser werden. Bis dahin bleibt das Verletzungsrisiko, das die eigenständige Mobilität von Sehbehinderten einschränkt.
Auch im Umfeld der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte in Giesing habe es schon mehrere Unfälle gegeben, sagt Lars Jakobeit vom Stadtteilmanagement Giesing, das unter anderem die Bürgerbeteiligung fördert. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Misch dich ein“ haben die Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung die Betreiberfirmen angeschrieben, auf bestimmten Wegen ein Abstellverbot angeregt und immerhin einen Teilerfolg erzielt: Die beiden Anbieter Voi und Dott sind dem Wunsch nachgekommen. Dieses Beispiel könne auch anderen Einrichtungen Mut machen, sich direkt bei den Anbietern für ihr sicheres Umfeld stark zu machen, glaubt Jakobeit.
Paris und Madrid haben die Leihroller aus dem Stadtbild verbannt
Dem BBSB geht es mit der Eindämmung des Scooter-Chaos nicht schnell genug. Claus kritisiert zudem, dass die Verleihfirmen nicht haften müssten, wenn durch einen umgefallenen oder falsch geparkten Roller etwas passiere. Dass die Bundesregierung nun ein Parkverbot für Leihroller auf Gehwegen plant, reicht seiner Ansicht nach nicht. Denn private Roller und Fahrräder dürfen weiterhin auf Trottoirs stehen, sofern sie niemanden behindern. „Die haben auf dem Gehsteig nichts verloren.“
Große Metropolen im Ausland, etwa Paris oder Madrid, haben die Leihroller wieder aus ihrem Stadtbild verbannt. Laut Mobilitätsreferat ist das in München aber nicht so einfach möglich. Der Freistaat Bayern werte derartige Angebote als „genehmigungsfreien Gemeingebrauch“, teilt das Referat mit. Für eine strengere Regulierung müsse ein „sehr aufwendiges Verfahren“ eingesetzt werden und es seien rechtliche Fragen offen. „Sollte der Bundesgesetzgeber einen verbindlichen Rechtsrahmen schaffen, so wäre eine Regulierung rechtssicherer umzusetzen“, schreibt eine Sprecherin.
Beim Anbieter Dott, vormals Tier, sieht man ein Abstellverbot auf Gehsteigen kritisch. Das Unternehmen, das als Erstes mit der Münchner Verkehrsgesellschaft kooperierte, befürwortet die flächendeckende Einführung von Parkzonen, wertet ein sofortiges Ende des freien Parkens aber als „unverhältnismäßige Einschränkung, die das Angebot grundsätzlich gefährdet“, teilt eine Sprecherin mit. „Zudem widerspricht dieser Passus unseres Erachtens klar den Klimaschutzzielen des Verkehrs.“ Auch das Mobilitätsreferat sieht die E-Scooter grundsätzlich als Ergänzung zum öffentlichen Nahverkehr, die auch zur Reduzierung des Autoverkehrs beitrage, das habe 2022 eine Studie ergeben.
Bernhard Claus bezweifelt den Nutzen für den Klimaschutz und die Verkehrswende. Er meint sogar, man müsse generell deren Sinn hinterfragen, von alten und in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen würden sie ohnehin nicht genutzt. „Das machen nur faule Leute und Touristen aus Bequemlichkeit“, vermutet Claus. „Die Leute könnten einfach auch laufen.“