Die Knappschaft Kliniken Lütgendortmund haben seit Kurzem eine VR-Brille im Einsatz. Psychologin Susanne Scheidat nutzt die Technik unter anderem in der Therapie von Angspatientinnen und -patienten. © Julia Kowal
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„Nicht nach unten gucken, einfach weitergehen“, sage ich mir wie ein Mantra auf, während ich über die Hängebrücke gehe. Auf der anderen Seite des Tals kann ich eine Burgruine sehen, links und rechts Berge. Und weit unter mir – oh weh, jetzt habe ich doch nach unten geschaut – rauschen Autos über eine Autobahn.
Was ich hier sehe und erlebe, passiert gerade nicht wirklich. Auf dem Kopf habe ich eine VR-Brille (VR steht für Virtuelle Realität), vor meinen Augen läuft ein Video ab. Die Aufnahmen sind real gefilmt, auch meine Höhenangst fühlt sich gerade ziemlich echt an. Denn mit der VR-Brille schaue ich eben nicht einfach nur ein Video an, ich erlebe es.
Depression nachfühlen
Die Psychiatrische Institutsambulanz nutzt diese innovative Technologie seit einigen Monaten. Schon vor ein paar Jahren wurde sie einmal an den Knappschaft-Kliniken Lütgendortmund verwendet: Bei einer Aktion der Robert-Enke-Stiftung konnten Interessenten mit Hilfe einer VR-Brille erfahren, wie sich eine Despression anfühlt.
Nun wird die Technik dauerhaft in der Institutsambulanz für die Therapie von Angstpatientinnen und -patienten genutzt, ebenso für Menschen mit Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), chronischen Schmerzen, Zwängen oder Süchten.
Dank VR auf die Hängebrücke
Die Leitende Psychologin Susanne Scheidat gewährt mir sozusagen eine Sonder-Therapiesitzung, in der ich mich meiner Höhenangst stelle. Dafür wählt sie eines von 650 Szenarien aus, das auf meine Angst zugeschnitten ist. Sie reicht mir die VR-Brille und startet das Video. Und plötzlich stehe ich nicht mehr im Behandlungszimmer, sondern in schwindelerregender Höhe auf einer – wie mir scheint – endlos langen Hängebrücke aus Stahl.
„Je größer die Angst ist, desto realer wird das Video empfunden“, erklärt die Diplom-Psychologin. Wem Höhe also nichts ausmacht, für den ist die Situation, in der ich mich gerade befinde, nur ein schönes Video. Ich aber verspüre den Drang, mich am Geländer festzukrallen, mich hinzuhocken – oder einfach umzudrehen.
Letzteres kann ich sogar. Denn die Aufnahmen wurden mit einer 360-Grad-Kamera gemacht. Wohin ich mich also auch drehe, sehe ich die reale Aussicht von der Hängebrücke. Nur mich festhalten oder stehenbleiben kann ich nicht, zumindest nicht im Video. Denn das läuft im steten Tempo weiter. Aus der Situation komme ich also nicht raus, ich muss mich ihr stellen.
VR-Brillen aufsetzen und schon bin sehe ich nichts mehr vom Behandlungszimmer, sondern bin auf einer virtuellen Hängebrücke.© Susanne Janecke/Knappschaft Kl.
„Das ist der große Vorteil der Technologie“, betont Susanne Scheidat. „Wir können unsere Patientinnen und Patienten mit der Brille motivieren, sich Situationen auszusetzen, in die sie sich in der Realität nicht trauen.“ Wege aus der Angst zu finden ist das Ziel der Angsttherapie, dazu braucht es die Reizkonfrontation. „Die herzustellen, ist für uns aber nicht immer möglich“, so Scheidat.
Denn wenn jemand Angst vor Autofahren auf der Autobahn hat, dann kann sich Susanne Scheidat eben nicht einfach mit ihm oder ihr ins Auto setzen und losfahren – das wäre sehr zeitaufwendig und gefährlich. Auch eine Vogelspinne kann die Psychologin nicht ins Behandlungszimmer holen. Und in Lütgendortmund gibt es auch nicht eine solche Hängebrücke, über die ich gerade laufen muss.
Mit Musik Spannung erzeugen
Szenario, Stimmung, Spannung, Lautstärke und Dauer, als das kann Susanne Scheidat konfigurieren und so auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten abstimmen.
In meinem Fall ist der Gang über die Hängebrücke mit schnell getakteter Musik unterlegt, die zusätzliche Spannung und somit Stress für mich erzeugt. Die Leute, die mir auf der Brücke entgegenkommen, schauen auch nicht gerade glücklich drein und halten sich am Geländer fest. Das steigert mein Unwohlsein nochmals.
Während der Exposition, also der gezielten Konfrontation, kann Susanne Scheidat auf ihrem Computerbildschirm genau verfolgen, was der- oder diejenige mit der VR-Brille auf dem Kopf gerade sieht. „Ich sehe genau, wo die Patienten hinschauen, ob sie also zum Beispiel die Spinne angucken oder den Blick abwenden“, erklärt sie.
Über den Computerbildschirm kann Susanne Scheidat sehen, was die Patientinnen und Patienten durch die VR-Brille sehen und wohin genau sie schauen.© Julia Kowal
Je nach Reaktionen der Patientinnen und Patienten greift sie unterstützend ein, leitet an oder beobachtet einfach nur. Das genaue Zuschauen ist für die Diagnostik wichtig. Scheidat: „Eine Patientin sagte nach einem Unfall, dass sie nicht mehr Autofahren kann. In der Exposition stellte sich aber heraus, dass nicht das Autofahren an sich das Problem war, sondern nur ähnliche Situationen, wie die bei dem Unfall, Angst auslösten.“
Doch nicht immer geht es bei der Therapie mit VR-Brillen darum, Ängste zu überwinden. Für alkoholabhängige Menschen zum Beispiel lassen sich Versuchungssituationen erzeugen, durch die Susanne Scheidat dann begleitet. Auch für die Entspannung nach Konfrontationen nutzt die Psychologin die Technologie: „Manche Menschen können schlecht imaginieren. Mit der VR-Brille können sie sich leichter an einen schönen Strand versetzen und sich entspannen.“
Epilepsie vorab ausschließen
25 Patientinnen und Patienten in der Psychiatrischen Institutsambulanz nutzen derzeit regelmäßig die VR-Brille, die Resonanz ist laut Scheidat durchweg positiv. „Die Technologie hat ja auch nur Vorteile“, betont die Psychologin, die anfangs selbst Zweifel hatte. „Ich war doch etwas skeptisch, ob das wirklich so real ist“, gesteht sie. „Aber ich habe mich dann schnell überzeugen lassen.“
Vor der Verwendung ist aber abzuklären, dass Patientinnen und Patienten nicht an Epilepsie, schweren Augen- oder Schwindelerkrankungen erkrankt sind. Denn für davon Betroffene ist die VR-Brille nicht geeignet.
Auf ein bestimmtes Alter ist die Technologie hingegen nicht begrenzt. In den Knappschaft Kliniken Lütgendortmund sind die Patientinnen und Patienten, die die VR-Brille nutzen, derzeit zwischen 30 und 40 Jahre alt. „Andere Kliniken setzen die Brille aber auch für ältere Menschen mit Demenz und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein.“
Durch die 360-Grad-Aufnahmen kann ich den Kopf drehen und bleibe jederzeit in der virtuellen Welt. Beim Blick nach unten sehe ich daher, wie tief es von der Hängebrücke nach unten geht und möchte mich am Geländer festhalten.© Susanne Janecke/Knappschaft Kl.
Drei bis fünf Sitzungen können für die Konfrontation bereits ausreichen. „Das ist bei jeder Exposition so, mit Hilfe von VR können wir die aber sehr viel leichter durchführen“, so Scheidat. Die gezielte Konfrontation ist Teil einer Therapie, wird also begleitend eingesetzt. Einige Patientinnen und Patienten konnten die bereits abschließen – obwohl die Psychiatrische Institutsambulanz die Technologie erst seit Mai nutzt. „Das ist wirklich ein Erfolg“, freut sich die Psychologin.
Meine Höhenangst überwinde ich mit dieser einen Konfrontation also nicht. Schade, denn die Aussicht von der Hängebrücke ist ja eigentlich ganz schön. Dafür diagnostiziert Susanne Scheidat noch ein ganz anderes Leiden bei mir.
Denn als ich die VR-Brille wieder abnehme, wird mir kurz darauf ein bisschen schwindelig, etwas später stellt sich sogar leichte Übelkeit ein. „Leiden Sie unter Reisekrankheit?“, fragt mich die Psychologin und nennt mir gleich den Fachbegriff im Zusammenhang mit VR: Meine gerade noch empfundene Höhenangst auf der virtuellen Hängebrücke ist einer Cyber Sickness gewichen.