Minus 46 Grad. Ich sinke im Hartplastik-Schlitten zusammen, ein Eisklotz voller Schichten aus Mikrofasern, Fleece und Fell. Mich beschleicht die Sorge, einzuschlafen und zu erfrieren, hier im Norden der Insel Sachalin, „am Rande der Welt“, wie das indigene Volk der Niwchen sie nennt.

Die Niwchen lebten am Ochotskischen Meer bereits vom Fischfang und der Robbenjagd, als russische Zaren noch nicht mit japanischen Kaisern um die Vorherrschaft auf der Insel stritten. Sie lebten auf Sachalin, als zuerst das russische Zarenreich und später das sowjetische Terrorregime seine Gefangenen hier ausschüttete und in den Tod trieb. Es ist ihr „Land der Ahnen“. Mehr schlecht als recht trotzen sie heute den wirtschaftlichen Herausforderungen, der Fisch geht ihnen aus, weil die Bohrtürme von Rosneft, einem der größten Ölproduzenten weltweit, die Laichplätze der Lachse bedrohen. Der Fischer, der mich hinter sich herzieht, eine Viertelstunde bereits, pfeift gegen den Wind an, während ich nur noch einen Gedanken habe: Wärme, gebt mir Wärme!

Der Krieg gegen die Ukraine teilt alles in ein Davor und ein Danach

Ich weiß nicht recht, wie meine Füße mich vom Schlitten ins Haus des Fischers getragen haben. Damals, weit vor dem vollumfänglichen Krieg, der von einer Minute auf die andere alles an Gewissheiten zerstörte und einen undurchsichtigen Schleier auf das Land legte, der auf Jahre hinaus immer undurchdringlicher wird. Diesem Krieg, der alles in ein Davor und ein Danach teilt, der den Alltag in jeder Minute bestimmt. Die Arbeit sowieso. Zu den Niwchen könnte ich nicht mehr, der Geheimdienst FSB, der schon vor sechs Jahren alles überwachte und mich nach einigen Recherchetagen im Schnee sieben Stunden lang in einer grauen Amtsstube befragte, ohne auch nur ein Glas Wasser zu erlauben, hat nun alles unter Kontrolle. Das Frieren von heute ist ein anderes als das Frieren in der Bucht vor Sachalin 2019.

Dort hatte mir die Fischersfrau den Pelzmantel abgenommen und mich in Richtung Gasofen bugsiert. Ich spürte Leben in mir aufsteigen, es zog von den Zehen in den Kopf, meine Augen blinzelten wieder, die Finger griffen nach einer Tasse Tee.

Ach, Mütterchen…

So empfängst du deine Besucherinnen und Besucher. Du lässt sie zunächst in der Kälte stehen. Fremde erscheinen dir suspekt. Du zeigst ihnen die kalte Schulter – und eine rührende Art von Neugier. Nach einer gewissen Zeit lässt du sie die Wärme spüren, die von dir ausgeht. Manchmal auch eine gefährliche Hitze.

Ich bin eine etwas anders geartete „Fremde“. Manchmal sagst du gar, ich sei eine „Nascha“ – die „Unsrige“. Geburtsland: Sowjetunion. Meine deutschen Vorfahren hast du einst ins Lager gesteckt, hast sie schuften und hungern lassen. Sie haben deinen Gulag überlebt, voller Angst und Traumata, die sie bis heute in sich tragen. Meinen ukrainischen Urgroßvater hast du vom NKWD, dem Vorgänger des FSB, festnehmen lassen und ihm seine Identität genommen. Die Vorwürfe, die sich im „Fall“ gegen ihn finden, sind teils wortgleich mit den Vorwürfen gegen die heutigen Regimekritiker. Es sind fast 90 Jahre vergangen.

Die Pioniere sind zurück in Russland, sie haben sich zur neu gegründeten „Jugendarmee“ dazugesellt

Ich bin nicht die „Deine“. Aber ich kenne deine Mechanismen von Demütigungen und Bestrafungen von klein auf. Weiß, dass ein Individuum ein Nichts ist für dich und das Kollektiv alles. „Immer bereit!“ Dieser Spruch der Jungpioniere, auch mir ging er als Kind über die Lippen – bis ich die zusammengebrochene Sowjetunion verlassen hatte und lernte, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Vielfältig, auch zweifelnd, Fragen stellend.

Die Pioniere sind derweil zurück im Land, sie haben sich zur neu gegründeten „Jugendarmee“ dazugesellt, die sich in Wettbewerben feiert, wer am schnellsten eine Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammensetzt. Auch Fahnenappell und die militärische Grundausbildung in der Schule sind wieder da. Du bist geübt in Indoktrination, schon der allerkleinsten.

Wärme, gebt mir Wärme! Inna Hartwich bei einer Recherche.

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Wärme, gebt mir Wärme! Inna Hartwich bei einer Recherche.
Foto: Inna Hartwich

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Wärme, gebt mir Wärme! Inna Hartwich bei einer Recherche.
Foto: Inna Hartwich

Ach, Mütterchen…

Es gab eine Zeit, in der du dich geöffnet hattest. Eine chaotische Zeit, in der niemand wusste, wie mit Freiheit umzugehen ist. Und wie mit einer Wirtschaft, die zusammengebrochen war. Freiheit war nach einiger Zeit anstrengend, zu wild, das alles. Selbst denken ist eben anstrengend, Verantwortung übernehmen ist anstrengend. Du hast es gern gesehen, als die Menschen alles an dich übergaben und auf ihrer Datscha das Leben genossen. „Der Politik bin ich fern“, sagen die meisten gerne.

Ich war als Kind gegangen und als Erwachsene zu dir zurückgekehrt. Nach Russland. Ich bin durch den postsowjetischen Raum gereist. Habe als Austauschstudentin dein Unileben kennengelernt (sehr verschult), später als Gastredakteurin bei einer russischen Zeitung gearbeitet (als es noch unabhängige Medien hier gab). Ich bin Jahre bei dir geblieben, überzeugt davon, dich für meine Leserinnen und Leser erklären zu können, deine Geschichte, deine Schmerzen.

Gerichte in Russland lassen kaum mehr Journalisten in die Verhandlungssäle

Ich lernte hier die Liebe kennen, vor einem Gerichtsgebäude, wo sonst. Russland-Berichterstattung ist nach wie vor Gerichtsberichterstattung. Nur, dass Gerichte kaum mehr Journalisten in die Verhandlungssäle lassen. Nach ein paar Jahren woanders war ich wieder bei dir, zu einem Zeitpunkt, als deine Gesellschaft immer militaristischer wurde. Mehr als mein halbes Leben habe ich bei dir verbracht, habe unserem Kind deine Sprache mitgegeben, meine Sprache der Kindheit, die ich nicht Putin und seinen willfährigen Handlangern überlasse.

Ach, Mütterchen…

Russland ist hervorgegangen aus der Vorstellung von der Erde als göttliche Mutter, zum Symbol der Stärke, der Widerstandskraft und der Fruchtbarkeit stilisiert. Die Stärke willst du allen weismachen und bist zuweilen so unsouverän, weil du ständig auf andere zeigst und fast schon trotzig brüllst: „Aber die haben das auch gemacht! Wir dürfen jetzt auch!“ Widerstand ist so eine Sache bei dir. Du machst dir die Menschen, die durchaus ständig am Klagen sind, gefügig. Du nimmst ihnen immer mehr den Raum, sich dir zu entwinden. Verlangst, dass sie sich dir unterwerfen, egal, was du von ihnen willst. Den Gürtel enger zu schnallen, gehört mitunter zu deiner Spezialität. Manchmal bist du geradezu stolz auf deine Leidensfähigkeit. Und das mit der Fruchtbarkeit? Du schickst deine Söhne in den Krieg und sagst schon den Kleinsten, es sei ihre Pflicht, für dich, die Mutter Heimat, auf Schlachtfeldern zu sterben.

Ich weiß, du gibst dich aufopferungsvoll. Mamotschka, Mamulja, Mamussik, geradezu lieblich kommen deine Namen daher. Doch du hast dich längst mit deiner Rolle der aufopfernden Dienerin eines Verbrecherstaates abgefunden. Du als Mütterchen Russland, so lässt sich über deine Entstehungsgeschichte herausfinden, hattest stets ein Zaren-Väterchen an deiner Seite. Der Monarch schloss eine heilige Allianz mit dir, die Ehe. Und schon gehörtest du ihm, er sprach für dich und tat alles in deinem Namen. Das Väterchen ist kein Zar mehr, du hast dich längst dem Präsidenten ausgeliefert. Dem Mann, einem Geheimdienstler, der in deinem Namen sagt, Russland kenne keine Grenzen. Der das Nachbarland überfällt und den Menschen weismacht, es sei gar kein Überfall, sei kein Krieg, es sei eine „militärische Spezialoperation“, nach drei Tagen beendet, die Soldaten würden mit Blumen empfangen. Eine Überschätzung von Anfang an.

Im Namen des Friedens lässt du töten und versinkst im Sumpf aus Verwerflichem und Beschönigendem

Du und er, ihr findet auch nach dreieinhalb Jahren keinen Weg mehr heraus, ihr habt alles auf diesen Krieg eingestellt, den ihr nicht Krieg nennt. Denn einen Krieg, so sagt der moderne Zar, dein Präsident, den führten die anderen, angeblich gegen dich, die Interessen von Mütterchen Russland. Es ist eine pervertierte Geschichte, und du trägst sie mit, so stromlinienförmig wie die meisten um dich herum.

Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Videoansprache zum Tag der Kriegsmarine im Kreml.

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Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Videoansprache zum Tag der Kriegsmarine im Kreml.
Foto: Mihail Metzel, Pool Sputnik Government/dpa

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Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Videoansprache zum Tag der Kriegsmarine im Kreml.
Foto: Mihail Metzel, Pool Sputnik Government/dpa

Wie schaffst du es, das Denken abzustellen und all das zu ignorieren, was nicht zu ignorieren ist? Du spaltest die Fakten so weit ab, dass du ganz verwundert darüber bist, dass deine Verwandten in der Ukraine nicht mit dir sprechen wollen. „Aber ich, ich habe ihnen doch nichts getan“, stammelst du allen Ernstes. „Ich, ich bin doch so friedliebend“, sagst du und lässt sogleich (ja, als unteilbare Gemeinschaft mit dem Väterchen) Drohnen und Raketen auf ukrainische Städte niederregnen. Das sei alles deins, behauptest du, du wollest das nur mal schnell „befreien“. Deine „Befreiungskünste“ aber schätzt niemand. Im Namen des Friedens lässt du töten und versinkst im Sumpf aus Verwerflichem und Beschönigendem.

Du hast dir eine scheinbar sorgenfreie Realität geschaffen. Bunte Kulissen, dekoriert mit übergroßen Blumenkübeln entlang der Einkaufsstraßen. Es ist eine „Verdatschung“ der ganzen Gesellschaft, eine Flucht ins Grüne, ein bisschen in der Erde buddeln, in der Hängematte baumeln, in die Sonne hinausblinzeln. Hinter den Kulissen der Abgrund, in dem der Morast blubbert und stinkt. Was passiert, wenn du aus der Hängematte rausrutschst und in die Schlucht hineinfällst?

Russland, du könntest so vieles!

Du könntest der Welt deine dampfenden Vulkane von Kamtschatka zeigen, deine Schneetundra an der Barentssee. Du könntest sie den Steppenwind am Ural spüren und über den Baikalsee staunen lassen. Du könntest so vieles. Stattdessen drohst du mit Atomwaffen und zerstörst Häuser, Leben, Gewissheiten. Du bringst deine eigenen Leute hinter Gitter, weil sie dein verbrecherisches Tun anprangern. Du schmeißt deine Leute aus dem Land und nennst sie „ausländische Agenten“, „Extremisten“, „Staatsverräter“, weil sie zum Krieg Krieg sagen. Du nimmst mit deinen Gesetzen Raum zum Gestalten. Du raubst das Ich.

Zurück bleibt die Tragik. „Ich will in mein Moskau zurück. In mein Russland“, sagen viele derer, die gegangen sind. Dieses Moskau und dieses Russland aber gibt es nicht mehr. Auch wir müssen uns trennen. Vielleicht für lange Zeit. Ach, Mütterchen…

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