Lothar Matthäus, damals gerade einmal 19 Jahre alt und noch kein Weltmeister, war die ganze Sache merklich unangenehm. „Er hat sich bei mir entschuldigt“, erinnert sich William „Billy“ Donougher. Der spätere Weltfußballer hatte dem Engländer im Trikot des SV Atlas Delmenhorst tatsächlich ein Tor geklaut. Im DFB-Pokal-Achtelfinale der Blau-Gelben beim Bundesligisten Borussia Mönchengladbach am 31. Januar 1981 verhinderte Matthäus‘ Hand, dass ein Donougher-Schuss den Weg über die Linie fand. „Der wäre sicher reingegangen“, sagt der heute 67-Jährige. Immerhin: Es gab einen Handelfmeter, den Herbert Meyer zum Delmenhorster Ehrentreffer verwandelte. Der Außenseiter verlor beim haushohen Favoriten letztlich mit 1:6.
Das Duell zwischen Atlas und Gladbach hat also ungewöhnlich viel Tradition für ein Spiel zwischen Amateur- und Profiklub. Am 17. August treffen die beiden Vereine in Oldenburg aufeinander (15.30 Uhr), mehr als 44 Jahre nach dem denkwürdigen ersten Vergleich. Heutzutage ist es keine Frage mehr, dass der Oberligist gegen den Bundesligisten Heimrecht genießt. Es ist in den Regeln festgeschrieben. 1981 war das noch nicht so. Die Blau-Gelben, in der damals drittklassigen Oberliga beheimatet, mussten an den Bökelberg reisen.
Kein Heimvorteil für Amateurklubs
„Es war wirklich schade, dass wir als Amateurverein keinen Heimvorteil hatten. Das Spiel wäre in Delmenhorst ein Riesenevent gewesen, wir hatten immer viele Zuschauer bei unseren Heimspielen und waren zu Hause sehr stark“, sagt Donougher und fügt hinzu: „Es war aber auch ein Traum, am Bökelberg zu spielen. Das war ein sehr schönes Erlebnis.“
Der englische Mittelfeldspieler gehörte zusammen mit Atlas-Größen wie Thomas Pfautsch, Günter Selke oder „Bubi“ Bentrup zur Startelf gegen ein Gladbacher Starensemble, dem neben Matthäus auch Topspieler wie Ewald Lienen, Wolfgang Kleff oder Wolfram Wuttke angehörten. An der Seitenlinie stand bei der Borussia Jupp Heynckes, der als Trainer später nahezu alles gewinnen sollte, was es zu gewinnen gibt. „Wir hatten anfangs zu viel Respekt vor diesen großen Namen“, gibt Donougher zu. Zur Pause lag Delmenhorst mit 1:6 hinten.
Das 5:0 für Borussia Mönchengladbach: Harald Nickel ist eher
am Ball als Atlas-Torwart Hans-Jürgen Metz und trifft per Kopf.
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„In der zweiten Halbzeit haben wir diesen Spielstand dann bis zum Schluss gehalten. Da hat man gesehen, dass vielleicht mehr möglich gewesen wäre, aber natürlich hat Gladbach verdient gewonnen“, sagt Donougher. Gladbachs Trainer Heynckes zeigte sich durchaus beeindruckt von der Leistung des Gegners und erklärte nach dem Abpfiff: „Die zweite Halbzeit hat gezeigt, weshalb die Delmenhorster Amateure in der DFB-Pokal-Hauptrunde so weit gekommen sind.“
Das größte Spiel der Karriere
„Billy“ Donougher ist ein echter Liverpooler – ein „Scouser“, wie man in England sagt. Donougher wurde in der Stadt im Nordwesten Englands geboren, spielte dort in der Jugend des FC Liverpool und durfte für seinen Heimatverein tatsächlich auch ein Erstligaspiel gegen Leeds United an der legendären Anfield Road bestreiten. Das sollte für einen Jungen aus Liverpool eigentlich das Allergrößte sein, doch Donougher macht ein überraschendes Bekenntnis: „Ich hatte riesiges Glück, dass ich an der Anfield Road spielen durfte, aber für mich persönlich steht das Spiel mit Atlas gegen Gladbach sogar noch ein bisschen über dem Spiel für Liverpool – wegen der Vorgeschichte.“
Im legendären Stadion am Bökelberg in Mönchengladbach verloren die Delmenhorster mit 1:6.
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Donougher meint damit, dass die Delmenhorster zuvor im DFB-Pokal Überraschungssiege gegen die Zweitligisten Rot-Weiß Oberhausen (1:0) und Kickers Offenbach (1:1 auswärts, 2:1 daheim) gefeiert hatten. Erst dadurch verdienten sie sich den großen Auftritt am Gladbacher Bökelberg. „Man muss das als Gesamtpaket sehen. Wie wir Oberhausen und Offenbach ausgeknockt haben, war überragend“, sagt Donougher. „Wir waren eine richtig geile Mannschaft damals bei Atlas und haben auch gerne mal ordentlich zusammen gefeiert.“ Jägermeister meide er seit seiner Delmenhorster Zeit, erzählt der Engländer und lacht. Davon habe er einmal so viel getrunken, dass ihm noch tagelang schlecht gewesen sei.
Von Delmenhorst nach Baunatal
Donougher fühlte sich damals wohl in Delmenhorst, trotzdem zog er schon nach einem Jahr weiter und folgte seinem Trainer Bernd Oles zum KSV Baunatal nach Nordhessen. Richtig erklären kann er sich seine Entscheidung heute nicht mehr: „Ich hatte ein sehr gutes Jahr bei Atlas und weiß gar nicht, warum ich nicht geblieben bin. Baunatal hat es clever gemacht. Die haben mich eingeladen und mir ein Hotel gebucht mit Blick auf deren fast neues Stadion. Das hat mich schon beeindruckt. Außerdem hatte ich eine gute Verbindung zu Bernd Oles und wollte weiter mit ihm zusammenarbeiten.“
Der Umzug nach Baunatal sollte Donoughers Leben prägen, bis heute lebt er in der 29.000-Einwohner-Stadt. Bei Volkswagen fand er dort einen Job im Logistikbereich, der mit vielen Reisen um die Welt verbunden war. „Ich bin viel herumgekommen, das war schön. Seit sieben Jahren bin ich Rentner. Meinen Posten bei VW hat kurioserweise mein Sohn Sascha übernommen. Er war auch ein sehr guter Fußballer, hatte aber leider Verletzungspech“, erzählt Donougher.
Auf der Rückfahrt aus Mönchengladbach wurde im Atlas-Mannschaftsbus Skat gespielt.
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SV-Atlas-Museum
Nach seiner Fußballkarriere war der Ex-Atlas-Akteur erfolgreich als Jugendtrainer tätig und trainierte Kinder in verschiedenen Fußballcamps. „In der Fußballschule der Sparkasse war ich mit Uwe Bein als Trainer dabei. Ihn habe ich beim Pokalspiel mit Atlas gegen Offenbach kennengelernt und wir haben uns angefreundet“, sagt Donougher. Bein sollte eine große Karriere hinlegen und 1990 zusammen mit Matthäus Weltmeister werden.
Ganz so hoch hinaus ging es für Donougher nicht, doch auch er war ein hervorragender Mittelfeldspieler – technisch beschlagen, kampfstark und torgefährlich. In dem einen Jahr im Atlas-Trikot erzielte er 15 Treffer in 29 Partien. Als er einst aus Liverpool nach Deutschland kam, bestritt Donougher zunächst ein Probetraining bei Werder Bremen, Manager Rudi Assauer wollte ihn allerdings nur für die zweite Mannschaft verpflichten. „Ich hatte Flausen im Kopf und habe gesagt: In der Zweiten will ich nicht spielen“, erinnert sich Donougher. Stattdessen wechselte er zum Bremer SV, von dort ging er dann zum SV Atlas und mischte mit den Blau-Gelben den DFB-Pokal auf. Kein anderer Amateurverein kam in der Saison 1980/81 so weit wie die Delmenhorster.
Eine freche Aussage und die Folgen
Nach der Niederlage in Mönchengladbach ärgerten sich zwar einige Spieler und auch Trainer Oles, aber der Ärger wich schnell dem Stolz auf eine starke Pokalsaison. Im Mannschaftsbus wurde auf der Rückfahrt Skat gespielt, die Stimmung war gut. Vor der Abfahrt hatte „Billy“ Donougher den Mund noch ziemlich voll genommen, vermutlich aus Trotz. Der nächste Gegner in der Oberliga hieß Hummelsbütteler SV, und er sagte den Journalisten: „Jetzt haben wir 1:6 verloren, dafür gewinnen wir das nächste Spiel mit 6:0.“ Diese Aussage bekamen auch die Hummelsbütteler mit, und das hatte Folgen. „Die waren sauer und besonders motiviert. Die haben mich dann ganz schön getreten. Ich habe daraus gelernt, so etwas hätte ich lieber nicht sagen sollen. Zum Glück haben wir mit Atlas trotzdem 5:2 gewonnen“, erzählt Donougher.
Seine Teamkollegen von damals sieht der Engländer nur noch selten. 2019 weilte er letztmals in Delmenhorst und war live dabei, als der SV Atlas im ausverkauften Weserstadion sein DFB-Pokal-Spiel gegen Werder Bremen (1:6) bestritt. Die nun anstehende Partie gegen Gladbach ist für Donougher sogar noch etwas interessanter, weil dabei Erinnerungen an 1981 hochkommen. „Ich gucke mal, ob ich es irgendwie hinkriege, im Stadion dabei zu sein“, sagt er. „Wenn es nicht klappt, schaue ich das Spiel natürlich im Fernsehen.“