Dora Rosário lebt nicht im Hier und Jetzt. Sie lebt auch nicht im Gestern; sie lebt im Vorgestern, und wahrscheinlich wäre ihrer 17-jährigen Tochter Lisa selbst das noch nicht vorsintflutlich genug. Zehn Jahre ist ihr Mann jetzt tot. Eine Krankheit hatte ihn dahingerafft. Das passte, so schlaff und willenlos, so ganz ohne Ehrgeiz und Leidenschaft, wie er war. Da hatte der Tod leichtes Spiel. Er machte Dora Rosário mit Mitte dreißig zur Witwe. Gewissermaßen hat auch sie mit dem Tod ihres Mannes ihr Leben beendet. Sie, ihr Mann Duarte und Lisa, nur das allein zählte für Dora Rosário. Alle Menschen um sie herum, das waren die Anderen. „Die Anderen waren der Feind, von dem nichts Gutes, eher alles Schlechte zu erwarten war“, so beschreibt es die in Lissabon geborene Schriftstellerin Maria Judite de Carvalho (1921–1998) in ihrem Roman Leere Schränke, der nun erstmals ins Deutsche übersetzt vorliegt. In Portugal erschien er 1966. Dort hat sich Carvalho als Autorin von Romanen, Kurzgeschichten und Novellen längst einen Namen gemacht. Die Literaturkritik verglich sie mit Anton Tschechow und Katherine Mansfield. Carvalhos Erzählweise ist nicht nur minimalistisch und von funkelnder Ironie, sie ist spöttisch und scharfsichtig. Es geht auch hier um die großen Emotionen, aber die Autorin blickt auf Liebe, Verzweiflung, Enttäuschung und Verrat wie eine Pathologin und seziert alles mit ruhiger Hand. Leere Schränke ist das Porträt einer Frau, die sich nach dem Tod ihres Mannes zwar als handlungsfähig und zupackend erweist, innerlich aber längst erloschen ist; die vielleicht sogar nie für etwas brannte, am wenigsten für sich selbst. Im Portugal der Sechzigerjahre – die Salazar-Diktatur nähert sich ihrem Ende – erfüllt sie alle Vorstellungen eines konventionellen Ehelebens. Sie bewegt sich folgsam an der Seite ihres Mannes und tritt dabei ganz beiläufig die kleinen Feuer in ihrem Innern aus. Lodert doch noch einmal Glut auf, weiß Duarte es mit seinen Reden über die bestialische Gesellschaft zu ersticken. Er hat es zu nichts gebracht und verbirgt sein Scheitern hinter der Maske des ewig nörgelnden und alles durchschauenden Gutmenschen. Dora liebt ihn, widerspricht nicht und verschweigt ihre eigenen Gedanken, um Duarte nicht zu verletzen: „Er war ein guter Mann, ein unverdorbener Mann, gefeit gegen die Schlechtigkeit und Gier der Welt. Er ließ sich nicht verderben. Und ein wenig verachtete Dora sich selbst für ihre kritischen Gedanken, die sie sogar ihm gegenüber hegte, weil sie nicht uneingeschränkt an seine Idole glaubte, weil sie seine Heiligkeit nicht noch mehr bewunderte, weil sie mit einem heimlichen Lächeln das unsichtbare Podest betrachtete, auf das er sich selbst gestellt hatte.“ Zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes wirkt sie selbst nur noch wie ein Häuflein Asche inmitten seiner Devotionalien. Das Leben ohne Duarte ist ihr eine Wüste, die Einsamkeit ihr bester Freund. Mit Ende dreißig ist sie weder besonders hübsch noch besonders hässlich. Sie ist etwas viel Schlimmeres: Sie ist unscheinbar.