Die Zahl der Verstöße im Berliner Straßenverkehr hat in den vergangenen 3,5 Jahren kontinuierlich zugenommen. Rund 10 Prozent dieser Verstöße konnten nicht geahndet werden. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Von Torsten Mandalka
- Deutlicher Anstieg der Verkehrsordnungswidrigkeiten in Berlin
- Verkehrsforscher sieht „zurückgehende Zivilisierung im Verkehr“
- Mehr als 400.000 Verstöße konnten 2024 nicht geahndet werden
- Berlin hätte zwölf Millionen Euro Bußgelder mehr einnehmen können
Es ist ein ganz normaler Sommerabend, an dem Oberkommissar Danny B. seinen zivilen Streifenwagen durch Berlin steuert. Sein Kollege Marcel H. neben ihm hält die Kelle mit der Aufschrift „Halt Polizei“ bereit und bedient die Geschwindigkeitsmessanlage, die im Wagen eingebaut ist. Zuerst stoppen die Beamten einen jungen Mann, der auffällig und andauernd während der Fahrt an seinem Handy hantiert. Im Laufe des Abends ertappen sie dann mehrere Personen, die bei Rot fahren, einen Raser, der mit seinem Porsche mit beinahe 100 Kilometer pro Stunde über den Spandauer Damm brettert und etliche unberechtigte Busspur-Nutzer.
Letztere zücken sofort ihre Kreditkarte und zahlen die 15 Euro Verwarnungsgeld ohne große Diskussionen. Bei Rotlicht-Verstößen und Geschwindigkeitsübertretungen sind die Beträge deutlich höher und es drohen Punkte – die Schmerzen der ertappten Verkehrssünder sind erkennbar größer.
Voraussichtlich auch mehr Verstöße in 2025
Gut 4,2 Millionen Anzeigen wegen Verkehrsverstößen hat es im Jahr 2024 in der Hauptstadt gegeben – rund 150.000 mehr als noch 2023. Aber nur gut 3,8 Millionen dieser Anzeigen konnten auch geahndet werden. Das geht aus Daten der Bußgeldstelle der Berliner Polizei hervor, die der Redaktion rbb24 Recherche exklusiv vorliegen.
Im ersten Halbjahr 2025 wurden bereits über zwei Millionen Verkehrsverstöße geahndet. Das deutet darauf hin, dass auch die Anzahl der Verstöße insgesamt erneut gestiegen ist.
Der Großteil der Verkehrsordnungswidrigkeiten sind Parkverstöße – mehr als 60 Prozent. Im vergangenen Jahr haben die Behörden einen Anstieg um gut elf Prozent festgestellt. Hauptgrund ist die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung.
Besonders auffällig aber sind die festgestellten Verstöße, die für andere Verkehrsteilnehmer unmittelbar gefährlich sind: Rotlicht- und Geschwindigkeitsverstöße. Sie haben 2024 im Vergleich zum Vorjahr um gut 16 bzw. 18 Prozent zugenommen.
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Verkehrsforscher: „Entgleisung der Kulturen“
Das alles deckt sich auch mit den Eindrücken aus der Praxis: „Es ist wirklich mehr geworden an Delikten“, sagt Oberkommissar B.. „Das stellen wir auch bei den Kontrollen definitiv fest.“
Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin zeigt sich nicht verwundert über den Anstieg der festgestellten Verstöße: „Wir haben hier eine zurückgehende Zivilisierung im Verkehr“, sagt er und spricht von einer „Entgleisung der Kulturen“.
Berlin entgehen Millionen durch nicht geahndete Verstöße
Nach Berechnungen des rbb hätte die Berliner Bußgeldstelle 2024 rund zwölf Millionen Euro (gemessen an der Durchschnittssumme pro Fall) mehr einnehmen können, wenn alle Verkehrsverstöße hätten geahndet werden können. Mit dieser Summe könnten die Bezüge des Regierenden Bürgermeisters und seiner SenatorInnen mehr als sechs Jahre lang finanziert werden. „Das ist skandalös viel“, sagt Knie. „Es ist ja kein Hexenwerk, diese Bußgelder einzutreiben. Gerade bei den Geschwindigkeitsübertretungen sind wir ja noch sehr zurückhaltend.“
Seiner Meinung nach könnte auch die Kontrolldichte deutlich ausgeweitet werden, etwa mit mehr Blitzern und mehr Personal. Dann könnte man die Verstöße auch unmittelbar vor Ort ahnden. Solche Maßnahmen würden sich schnell amortisieren. Das zeigten Erfahrungen aus anderen Bundesländern und dem europäischen Ausland. In der Schweiz beispielsweise würden praktisch 100 Prozent der Verkehrssünder auch bestraft. „Dass wir immer noch so ein großes und offensichtlich wachsendes Gap haben, ist wirklich nicht nachvollziehbar, das muss sich dringend ändern“, so Verkehrsforscher Knie.
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Die Gründe dafür, dass zehn Prozent der Verkehrsverstöße nicht geahndet wurden, sind nach Erkenntnissen der Bußgeldstelle vielfältig:
- Auch die zuständigen Behörden leiden unter „Fachkräftemangel“
- Die Verjährungsfrist für die Ahndung von Verkehrsverstößen tritt in der Regel nach drei Monaten ein. In komplizierten Fällen gelingt es den Behörden nicht – oftmals auch wegen eines hohen Bürokratieaufwandes -, die verantwortlichen Fahrzeugführer rechtzeitig dingfest zu machen. Dies betrifft rund ein Prozent der Fälle insgesamt.
- In der multikulturellen Metropole Berlin sind viele Fahrzeugführer mit ausländischen Kennzeichen unterwegs. Insbesondere wenn es sich um Fahrzeuge handelt, die außerhalb der EU registriert sind, ist es schwierig, die Fahrer haftbar zu machen, sofern sie nicht auf frischer Tat ertappt werden.
- Berlin hat eine hohe Diplomatendichte. Deren Verkehrsverstöße nehmen stetig zu, können aber wegen der bestehenden Immunität nicht geahndet werden.
- Einsatzfahrzeuge mit Ausnahmerechten (Blaulicht) werden in der Statistik (Blitzer) zwar registriert, aber nicht sanktioniert.
- Immer häufiger werden Fahrzeughalter unter den registrierten Adressen nicht angetroffen.
- In verhältnismäßig wenigen Fällen gibt es Falsch-, Doppel- oder Mehrfachanzeigen, die dann entsprechend eingestellt werden müssen.
„Mehr Verkehrsteilnehmende auf öffentlichen Flächen“
Die Bußgeldstelle hat inzwischen eine Sonderabteilung für besonders regelmäßig auffallende und zahlungsunwillige Verkehrssünder eingerichtet. Dieses Sondersachgebiet geht solchen Fällen spezialisiert und intensiviert nach. In diesen Fällen gibt es über das Verwaltungsrecht auch die Möglichkeit zum Führerscheinentzug.
Die Zahlen insgesamt entsprechen zwar dem verbreiteten Gefühl einer zunehmenden Unsicherheit und Aggressivität im Berliner Straßenverkehr, die gerade auch bei einer Umfrage des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC deutlich wurde. Andererseits gab es vor der Novelle der StVO 2020 und der „Corona-Delle“ im Jahr 2019 noch deutlich mehr Verkehrs-Anzeigen als aktuell.
Experten wie Andreas Knie verweisen bei der Suche nach den Ursachen für den Wiederanstieg der Zahlen auf den Bevölkerungszuwachs, die Zunahme der Verkehrsdichte und die Verlagerung des Verkehrs zu Fußgängern und Radfahrern – das „Miteinander“ auf der Straße habe sich also verändert. „Die Zahl der Wege hat sich fast verdoppelt“, sagt der Verkehrsforscher. „Wir haben viel mehr Verkehrsteilnehmende auf öffentlichen Flächen und auf öffentlichen Straßen, die natürlich ihren Raum und ihr Recht beanspruchen und das ist vor allem für Autofahrende ungewohnt.“
Gemessen daran sei die Verkehrsdisziplin der Berliner noch verhältnismäßig gut, heißt es in Polizeikreisen, genauso wie die Zahlungsmoral von rund 70 Prozent, die schon ein Verwarnungsgeld akzeptieren. Schlussendlich zahlen etwa 90 Prozent der ertappten Verkehrssünder. Die Bußgeld-Gesamteinnahmen haben seit 2021 kontinuierlich zugenommen und belaufen sich auf über 112 Millionen im vergangenen Jahr.
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Diskussion um Kontrolldichte und Halterhaftung
Um die verbliebenen rund zehn Prozent, die nicht zahlen, haftbar zu machen, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: die Täter mit mehr Kontrollen stärker in flagranti zur Verantwortung zu ziehen oder eine – vom Verkehrsgerichtstag regelmäßig diskutierte – Halterhaftung. Dabei kommt der Fahrzeughalter für die Verstöße auf, egal wer gefahren ist. Dies gilt aber aus verfassungsrechtlichen Gründen als in Deutschland kaum umsetzbar.
Auch die Berliner Polizisten Marcel H. und Danny B. haben es bei ihrer Streifenfahrt am Abend mit zahlreiche Verkehrsverstöße zu tun, die sie nicht ahnden können: eine E-Scooter-Fahrerin und etliche Radler zum Beispiel, die bei Rot über die Ampel fahren, aber so schnell weg sind, dass die Beamten sie nicht stellen können. Auch auf der Stadtautobahn können sie nicht jeden automobilen Raser stoppen. Manchmal sind es gleich zwei auf einmal, die auffallen, und das Verfolger-Team kann sich nicht teilen.
Diese Fälle tauchen in der Statistik gar nicht erst auf. Den Polizisten ist das Problem mit der Dunkelziffer bewusst: „Mal denkt man, man arbeitet gegen Windmühlen“, sagt Oberkommissar Danny B.. „Und dann gibt es andere Tage, wo sich die Arbeit echt gelohnt hat.“
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