Berlin. Eine Fahrt mit dem Regionalzug kann momentan zur Irrfahrt werden. Aber man trifft auch unerwartete Helden. Die Stadtflucht-Kolumne.

Der Moment, an dem ich mich unauffällig nach versteckten Kameras umsah, kam neulich frühmorgens auf einer Landstraße bei Berlin. Ich hatte in einer Regionalbahn gesessen, die mich und andere nach Berlin bringen sollte. Jetzt irrten wir, etwa 50 Fahrgäste, im Gänsemarsch über die Straße. Einige wie ich mit geöffneten Laptops im Arm. Andere schoben Fahrräder, E-Scooter oder auch Rollatoren, schleppten Koffer und Taschen. Hätten wir es nicht so eilig gehabt, wäre es vielleicht lustig gewesen.

Klar, der Schienenersatzverkehr bei Oranienburg war in der Bahn-App angekündigt worden. Aber dass man zum Bus erst würde wandern müssen, über eine Landstraße ohne Zebrastreifen und Bürgersteig, stand da nicht. Schilder gab es auch nicht. So liefen alle dem einen Mitreisenden nach, der sich auskannte.

Schienenersatzverkehr Bahn Baustellen

Bahn-Fahrgäste zu Fuß und im Gänsemarsch: Schienenersatzverkehr Richtung Oranienburg, Juli 2025. 
© BM | Uta Keseling

Erst später würde ich begreifen, wie viel Glück ich an dem Morgen gehabt hatte – und wer dafür, überraschenderweise, verantwortlich war. Der Bus kam pünktlich. Der Busfahrer erlaubte sogar Fahrräder und Roller, die natürlich nicht in den Bus gehörten und beim Aussteigen ziemlich im Weg waren. An anderen Tagen sollen Fahrgäste, vom Schienenersatzverkehr überrascht, verzweifelt versucht haben, nach Berlin zu trampen – samt Fahrrädern. Das erfuhr ich von einer Frau, die mich fragte: „Und wie kommen Sie zurück?“ Denn das sei das eigentliche Problem.

Bahn-App: „Statt S1 fährt heute S1“

Auf dem Rückweg erfuhr ich, wie viel Verzweiflung Bauarbeiten bei der Bahn auslösen können. Schon seit Jahren wird in Berlin und Brandenburg viel gebaut, immer wieder sind Streckenabschnitte gesperrt, fallen Bahnen aus, mal mit Ansage, mal ohne. Manchmal gibt es mit Schienenersatzverkehr oder Sonderzüge erst nach lautem Protest wie kürzlich beim Fusion-Festival in Mecklenburg-Vorpommern.

Bis Oranienburg war ich an dem Tag immerhin ohne Probleme gekommen. Am Bahnhof Friedrichstraße hatte ich noch über die Bahn-App gerätselt, die mysteriös ankündigte: „Statt S1 fährt heute S1“. Am Gleis erfuhr ich von einem umgefallenen Baum, dessentwegen die vorherigen Bahnen ausgefallen waren, und etwas über verbotene „gefährliche Gegenstände“ im Bahnhof. Dann aber kam die S1. Und fuhr (als S1!) nach Oranienburg – ohne Ersatzverkehr wie an andere Tagen. Von dort sollte es aber mit dem Bus weitergehen.

GDL-Streik

Regionalverkehr in Berlin und Brandenburg

Doch an der Bushaltestelle schwante mir übles. Zwei Ersatzbusse warteten, jedoch keiner für meine Regionalbahn. Würde der noch kommen? Vor den provisorischen Fahrplänen stand grübelnd eine Traube Fahrgäste. Welcher Bus würde wenigstens annähernd in unsere Richtung fahren? Die Busfahrer waren freundlich, kannten aber die Gegend nicht. Schließlich entschied ich mich für einen Ersatzbus nach Löwenberg, in der Hoffnung, dort nicht wieder wandern zu müssen. Als ich einstieg, drängelte sich ein Fahrgast mir hinterher. „Der Bus nach Nassenheide fällt aus“, rief er, woraufhin ihm die Traube Fahrgäste panisch folgte.

„Bahnhof Löwenberg?“ – „Nee, Friedhof!“

Der alte Gelenkbus röhrte durch Weizenfelder, winzige Dörfer und malerische Alleen. Aber außer mir schauten alle nur auf ihre Handys. Ein Mann berichtete, wie er aus Versehen mit dem Ersatzbus nach Eberswalde gefahren war. Eine Frau berichtete von ihrem vergeblichen Versuch, am Bahnhof Gesundbrunnen den Ersatzbus für den RE5 nach Oranienburg zu finden. Eine andere telefonierte herum: „Kannst du mich mit dem Auto abholen?“ Die restlichen googelten hektisch Zugverbindungen oder Taxis. Dann hielt der Bus. „Bahnhof Löwenberg?“, fragte jemand. Jemand antwortete: „Nee, Friedhof!“ Panik. Dann fuhr der Bus doch weiter, zum Bahnhof.

Ich lernte: Ersatzbusse fahren auf anderen Routen als die Bahnen, die sie ersetzen. Mit zusätzlichen Haltestellen oder sie lassen welche aus, auch bei der S-Bahn. Manchmal kommen sie gar nicht. Hilfreiche und aktuelle Infos dazu von den Verkehrsunternehmen gibt es fast nie.

Hoffnung gibt es trotzdem. Der Mann in Nassenheide, der den Weg kannte. Der Fahrgast, der uns in Oranienburg davor bewahrte, auf den Bus zu warten, der nicht kam. Die Frau, die in Löwenberg wusste, wohin der Zug ohne Anzeige fahren würde:. Auch wenn die Bahn es nicht hinkriegt – auf ihre Fahrgäste ist Verlass. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir gebeten werden, unsere Züge doch selbst steuern. Oder den Ersatzbus zu fahren. Ich kenne jetzt die Route nach Löwenberg!

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