Die von der SPD nominierte Juristin Frauke Brosius-Gersdorf will nicht länger für die Richterstelle am Bundesverfassungsgericht kandidieren. Dies teilte 54-Jährige über ihre Bonner Anwaltskanzlei mit.
„Nach reiflicher Überlegung stehe ich für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung“, erklärte die Potsdamer Juraprofessorin demnach. „Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion – öffentlich und nicht-öffentlich – in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist. Teile der CDU/CSU-Fraktion lehnen meine Wahl kategorisch ab.“
Der Morgenlage Newsletter
Die wichtigsten Nachrichten des Tages — morgens direkt in Ihr E-Mail-Postfach.
Auch drohe ein „Aufschnüren des ‚Gesamtpakets’“ für die Richterwahl. Das gefährde die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht, „die ich schützen möchte“, hieß es weiter. Es müsse verhindert werden, dass sich der Koalitionsstreit wegen der Richterwahl zuspitze „und eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, deren Auswirkungen auf die Demokratie nicht absehbar sind“.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Externen Inhalt anzeigen
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Klingbeil sieht Verantwortung bei der Union
Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) sieht die Verantwortung dafür bei der Union. „Die SPD hat immer zu dieser exzellenten Kandidatin gestanden. Diejenigen, die am Ende nicht zu ihrem Wort innerhalb der Koalition gestanden haben, müssen dringend aufarbeiten, was da passiert ist“, forderte der SPD-Chef. „So ein Vorfall darf sich nicht wiederholen.“
Die SPD hat immer zu dieser exzellenten Kandidatin gestanden. Diejenigen, die am Ende nicht zu ihrem Wort innerhalb der Koalition gestanden haben, müssen dringend aufarbeiten, was da passiert ist.
Lars Klingbeil, Vizekanzler und SPD-Chef
Was Brosius-Gersdorf in den vergangenen Wochen an Anfeindungen habe erleben müssen, sei nicht tragbar, betonte Klingbeil. Er bedauerte den Rückzug der Richterin, die persönliche Entscheidung respektiere er aber.
Auch SPD-Co-Chefin Bärbel Bas forderte von der Union Konsequenzen. „Ich bedaure sehr, dass die Union nicht in der Lage war, Frauke Brosius-Gersdorf wenigstens zu einem Gespräch mal einzuladen“, sagte Bas dem „Spiegel“. „Ich finde, das muss die Union noch mal für sich aufarbeiten“.
Dass „rechte Netzwerke es wirklich geschafft haben, eine Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf zu führen“ mache ihr große Sorgen, so Bas. Wenn es so ist, dass eine Richterwahl beeinflusst werden kann, dann haben wir ein Problem“.
Auch SPD-Fraktionschef Matthias Miersch kritisierte den Umgang der Union mit der Juristin. „Nicht einmal ein persönliches Gespräch mit der Kandidatin wurde von der Unionsfraktion ermöglicht“, sagte Miersch. „Auch das hinterlässt Spuren.“ Die SPD werde „einen neuen Vorschlag für eine geeignete Besetzung unterbreiten, weiterhin mit klarer Orientierung an fachlicher Exzellenz“.
SPD sieht Vertrauen in Koalition „schwer erschüttert“
Die rechtspolitische Sprecherin der SPD, Carmen Wegge, wirft der Union vor, sie habe sich von einer rechten Hetzkampagne treiben lassen. „Dass sich Frau Brosius-Gersdorf genötigt sah, ihre Kandidatur zurückzuziehen, macht mich nicht nur tief betroffen, sondern auch wütend. Denn es bedeutet, dass eine gezielt orchestrierte rechte Hetzkampagne gegen sie gewirkt hat und die Union sich offenbar allzu bereitwillig von diesen Angriffen hat treiben lassen“, sagte Wegge dem Tagesspiegel.
Abendlage Newsletter
Die wichtigsten Nachrichten des Tages — abends direkt in Ihr E-Mail-Postfach.
Wegge beklagt, die Union habe „grundlos das Vertrauen innerhalb dieser Koalition schwer erschüttert“. „Wir erleben nicht nur ein politisches Versagen, sondern auch eine gefährliche Erosion des demokratischen Respekts vor Sachlichkeit und vor Personen“, so die SPD-Politikerin. Sie fordert nun „klare und glaubwürdige Signale für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Interesse der Demokratie, des Rechtsstaats und eines respektvollen politischen Umgangs“.
Grüne kritisieren Jens Spahn
Kritik kommt auch von den Grünen. „Wir bedauern sehr, dass Frauke Brosius-Gersdorf den Eindruck gewonnen hat, nicht mehr für eine Wahl zur Richterin am Bundesverfassungsgericht im Bundestag zur Verfügung stehen zu können“, teilen die Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann mit. Brosius-Gersdorf sei eine exzellente, hoch qualifizierte Juristin.
Es sei absolut inakzeptabel, dass die Unionsfraktion ihre Unterstützung zurückgezogen habe und eine Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf jetzt kategorisch ablehne. „Es bleibt ein ungeheuerlicher Vorgang, den es so noch nicht gegeben hat“, so Dröge und Haßelmann. „Die Verantwortung dafür trägt insbesondere Jens Spahn als Fraktionsvorsitzender. Spahn hatte sein Wort gegeben und kann dies nicht mehr halten.“
Linke sieht fatales Signal
Ähnlich äußerte sich die Linke, die von einem fatalen Signal spricht. „Es ist kein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass die rechte Hetzkampagne schlussendlich Erfolg hatte“, erklärte die Linken-Innenpolitikerin Clara Bünger.
Brosius-Gersdorf sei persönlich attackiert und ihre wissenschaftliche Arbeit in den Dreck gezogen worden. Es werde sich zeigen, wie viele fähige Juristen und Juristinnen sich noch zu einer Kandidatur für das Verfassungsgericht bereit fänden, fügte Bünger hinzu.
„Das Bundesverfassungsgericht wurde in diesem Prozess beschädigt, besonders durch das Verhalten der Unionsfraktion und ihrem Vorsitzenden Jens Spahn, der nicht in der Lage oder willens war, die Fraktion zu führen“, erklärte Bünger.
Spahn räumt Fehler ein – und zollt Brosius-Gersdorf Respekt
Der Unionsfraktionschef selbst wiederum zollte der Juristin Respekt für ihren Rückzug. „Der Entscheidung von Frau Prof. Brosius-Gersdorf gilt größter Respekt. Für ihre juristische Expertise und persönliche Integrität genießt sie zurecht hohe Anerkennung“, sagte Spahn der Deutschen Presse-Agentur. Der CDU-Politiker räumte ein, dass es herabsetzende und beleidigende Kritik gegeben hat, die die Juristin zuletzt erdulden musste.
Der Entscheidung von Frau Prof. Brosius-Gersdorf gilt größter Respekt. Für ihre juristische Expertise und persönliche Integrität genießt sie zurecht hohe Anerkennung.
Jens Spahn, Unionsfraktionschef
„Diese verurteilen wir ausdrücklich. Das habe ich ihr auch persönlich im Namen der Unionsfraktion gesagt“, so Spahn. Er bedauere, dass diese Lage auch durch die zu späte Ansprache der inhaltlichen Bedenken der Union habe entstehen können. Die Union wolle nun mit „der nötigen Ruhe und Sorgfalt eine gemeinsame Lösung mit unserem Koalitionspartner finden“.
Brosius-Gersdorf wollte Schaden für Gericht vermeiden
Die Wahl von Brosius-Gersdorf und zwei weiteren Nominierten für das höchste deutsche Gericht war im Juli im Bundestag kurzfristig abgesetzt worden. Teile der Unionsfraktion hatten Vorbehalte gegen die von der SPD nominierte Brosius-Gersdorf. Als Grund wurden unter anderem Äußerungen zum Schwangerschaftsabbruch und zu einer möglichen Impfpflicht in Corona-Zeiten angeführt. Auch meldete sich kurz vor der geplanten Wahl der Plagiatssucher Stefan Weber mit Fragen zur Dissertation der Staatsrechtlerin zu Wort.
Brosius-Gersdorf hatte zunächst an ihrer Nominierung festgehalten. Sie hatte in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ aber auch erklärt, sie würde verzichten, falls dem Gericht in der Debatte Schaden drohen sollte. „Das ist ein Schaden, den kann ich gar nicht verantworten.“ Das Bundesverfassungsgericht müsse in Ruhe arbeiten können und funktionsfähig bleiben.
Die Jura-Professorin betonte damals: „Ich möchte auch nicht verantwortlich sein für eine Regierungskrise in diesem Land, weil wir nicht wissen, was dann hinterher passiert. Das sind alles Aspekte, die nehme ich unheimlich ernst und die bedenke ich.“
Geplatzte Wahl im Bundestag
Obwohl die Fraktionsführung der Union die Nominierung von Brosius-Gersdorf zunächst mitgetragen hatte, konnte sie die mit dem Koalitionspartner verabredete Unterstützung unmittelbar vor der geplanten Wahl nicht mehr garantieren. Auch die Wahlen des Unionskandidaten Günter Spinner und der zweiten SPD-Kandidatin Ann-Katrin Kaufhold wurden von der Tagesordnung genommen.
Wie die Koalitionspartner CDU, CSU und SPD das Dilemma auflösen würden, war damit völlig unklar. Die Unionspolitiker hielten an ihrer Kritik fest, die SPD an ihrer Kandidatin.
Brosius-Gersdorf hatte von Drohungen berichtet
In einer früheren schriftlichen Stellungnahme hatte die Juristin die gegen sie erhobene Vorwürfe deutlich zurückgewiesen. „Die Bezeichnung meiner Person als „ultralinks“ oder „linksradikal“ ist diffamierend und realitätsfern“, heißt es darin. In manchen Medien sei zudem falsch über ihre Position zum Schwangerschaftsabbruch berichtet worden. Im ZDF betonte Brosius-Gersdorf: „Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft.“ Dies könne jeder nachlesen.
Mehr zum Eklat um die Richterwahl Causa Brosius-Gersdorf Droht eine Polarisierung der öffentlichen Debatte wie in den USA? Union torpediert Wahl der Juristin Brosius-Gersdorf Das hat es mit den Vorwürfen des österreichischen Plagiatsjägers auf sich Wie Frauke Brosius-Gersdorf die Menschenwürde sieht Das Problem, wenn ein Grundrecht unantastbar wird
Brosius-Gersdorf hatte auch berichtet, sie habe Drohungen und verdächtige Poststücke erhalten. „Ich musste vorsorglich meine Mitarbeitenden bitten, nicht mehr am Lehrstuhl zu arbeiten“, sagte die Juristin im ZDF. Die Berichterstattung über die Verfassungsrichterwahl und ihre Person sei „nicht spurlos an mir vorbei gegangen, nicht an mir, nicht an meinem Mann, an meiner Familie, meinem gesamten sozialen Umfeld.“
Für die schwarz-rote Koalition war die geplatzte Richterwahl eine Schlappe. „Die Dimension der grundlegenden und inhaltlich fundierten Bedenken gegen eine der Kandidatinnen haben wir unterschätzt“, hatte Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) in einem Brief an seine Fraktion geschrieben. Er gab aber auch der SPD eine Mitverantwortung für die gescheiterte Suche nach einem Kompromiss. (dpa, Tsp)