In einigen Berliner Kiezen hat mehr als jedes zweite Kind Sprachprobleme bei der Einschulung. Das zeigt eine gemeinsame Datenauswertung von Correctiv.Lokal und rbb zeigt: Die Zahlen offenbaren die zentrale Rolle früher Förderung – besonders in der Kita. Von Anja Meyer
Aufgeregt betritt die siebenjährige Serenay mit ihrem Papa den kleinen Raum im Reinickendorfer Gesundheitsamt. Sie kommt nach den Ferien in die Schule – heute steht die Schuleingangsuntersuchung an. Serenay gehört zu den letzten neuen Erstklässlern, die untersucht werden. Eigentlich finden die Untersuchungen schon Monate vorher statt, doch ihre Familie ist gerade erst aus Berlin-Tempelhof hergezogen. Nun wird die Ärztin Tatjana Hertting unter anderem Serenays Sprachkenntnisse überprüfen.
Bei diesen Untersuchungen zeigten sich im Jahr 2022 bei fast jedem dritten Kind in Berlin Sprachprobleme. Das geht aus Daten hervor, die der rbb in Kooperation mit dem Recherchenetzwerk Correctiv.Lokal ausgewertet hat. Aktuellere Daten konnte die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit noch nicht bereitstellen.
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Sprachprobleme: Große Unterschiede innerhalb der Bezirke
Auffällig: Je nach Kiez gibt es große Unterschiede. Die meisten Sprachprobleme hatten Kinder in Kreuzberg-Nord, wo 59,7 Prozent der angehenden Erstklässler Sprachdefizite zeigten. Gefolgt vom Märkischen Viertel (59,2 Prozent), Gesundbrunnen (58,7) Wilhelmstadt/Staaken (53,9) und Spandau Mitte/Nord (52,3). Die wenigsten Sprachprobleme hatten die Kinder im Norden von Treptow-Köpenick (9,3) und im sogenannten Grünen Norden von Reinickendorf (11 Prozent).
In diese Daten fließt auch ein, ob ein Kind etwa Sätze korrekt nachsprechen kann. Das soll nun auch Serenay versuchen. Doch es gelingt ihr nicht. Zuhause spricht die Famiie nur Türkisch, auch in ihrer Kita wurde mehr Türkisch als Deutsch gesprochen.
Sprachkenntnisse hängen auch vom Bildungsstand der Eltern ab
Ärztin Tatjana Hertting macht diese Untersuchungen nun seit 16 Jahren. Sie betont, dass nicht nur Kinder mit Migrationsgeschichte bei den Sprachtests schlecht abschneiden. Entscheidend sei vor allem der Bildungsstand der Eltern. Das zeigen auch die Daten der Schuleingangsuntersuchungen: In Kreuzberg-Nord etwa haben 44 Prozent der Erstklässler mit Deutsch als Muttersprache Sprachprobleme.
Ein Grund dafür sei, so Hertting, dass Kinder immer mehr Fernsehen schauen oder Zeit am Smartphone verbringen. „Wenn die Eltern selbst bildungsferner sind, hören sie vielleicht von mir zum ersten Mal, dass man einem Kind auch gerne mal was vorlesen darf oder mit ihm eine Höhle bauen oder andere schöne Sachen spielen“, sagt sie. „Viele Eltern glauben wirklich, sie tun ihren Kindern etwas Gutes. Wenn sie zum Beispiel nicht Deutsch als Erstsprache sprechen, dann geben sie ihnen oft das Handy und sagen: ‚Damit kann mein Kind besser Deutsch lernen.'“
Wichtige Chance: Sprach-Förderung in der Kita
Wenn Eltern ihren Kindern in der frühen Kindheit diesen Zugang zu Sprache und Bildung nicht ermöglichen können, bleibt als wichtigste Chance die Kita. Daten der Schuleingangsuntersuchungen zeigen: Kinder, die mindestens zwei Jahre eine Kindertagesstätte besucht haben, schneiden bei den Tests besser ab. Doch ob die Kinder dort wirklich gut gefördert werden, hängt auch von der jeweiligen Einrichtung und ihrem Betreuungsschlüssel ab.
Lisa Quack ist Fachkraft für Sprachförderung. Im Rahmen des Bundesprogramms „Sprach-Kita“ wurde sie explizit dafür in einer Reinickendorfer Brennpunkt-Kita eingestellt – mit 19,5 Wochenstunden, um Kinder in Kleingruppen intensiv zu fördern. Wie etwa beim dialogischen Vorlesen – einer Methode, bei der sie die Kinder ermuntert, selbst mitzureden. Doch das Bundesprogramm lief 2023 aus und wurde nur noch bis Ende Juli 2025 als Landesprogramm weitergeführt.
Eine schöne Sprachfördersituation sollte maximal mit vier bis fünf Kindern gemacht werden.
Sprach-Kita-Programm ausgelaufen – Fachkräfte schlagen Alarm
Für Lisa Quack ein falsches Signal. Zwar kann sie bleiben, ihr Träger finanziert ihre Stelle selbst weiter. Doch in anderen Sprach-Kitas mussten die Sprachförderkräfte gehen. Auch wenn dort die Erzieherinnen und Erzieher weiter vorlesen und die Kinder im Alltag zum Sprechen ermuntern, fürchtet sie, dass die gezielte Sprachförderung auf der Strecke bleibt. „Eine schöne Sprachfördersituation sollte maximal mit vier bis fünf Kindern gemacht werden, damit auch alle etwas sagen können“, erklärt Lisa Quack. „Habe ich 16 Kinder hier beim Vorlesen sitzen, fangen sie gegenseitig an, sich hochzupushen und am Ende hört keiner mehr zu.“
Auch die bildungspolitische Sprecherin der Grünen, Marianne Burkert-Eulitz, kritisiert das Aus für die Sprach-Kitas. „Mein Hauptproblem ist, dass die vielen Fachkräfte und Netzwerke, die sich daraus gebildet haben, jetzt in der Luft hängen, Fachkräfte verloren gehen und Kitas, die sich da stark auf den Weg gemacht haben, Expertise verlieren“ sagt Burkert-Eulitz. „Ich hätte erwartet, dass der Senat hier Vorkehrungen trifft, um die Expertise in den Kitas zu halten. Gerade in den Stadtgebieten, wo der Bedarf besonders hoch ist.“
Das hätte man fortführen müssen – zumindest bis es erneut Fortsetzungsprogramme der Bundesebene gibt
Förderung aller Kitas statt Brennpunkt-Kitas
Die SPD hätte sich trotz angespannter Haushaltslage eine Fortführung des Landesprogramms Sprach-Kitas gewünscht. SPD-Bildungspolitikerin Maja Lasic betonte, das Programm habe genau an den Orten angesetzt, wo der Bedarf besonders hoch war: „Das hätte man fortführen müssen – zumindest bis es erneut Fortsetzungsprogramme der Bundesebene gibt.“
Die Bildungsverwaltung hingegen verfolgt einen anderen Ansatz. Ihr Ziel sei es, die Sprachbildung innerhalb des gesamten Systems der frühkindlichen Bildung zu stärken. Anders als bei den Sprach-Kitas, bei denen ausschließlich Einrichtungen in bildungsfernen Stadtgebieten gefördert wurden, sollten alle Kitas profitieren – etwa durch die Verbesserung des Personalschlüssels bei unter Dreijährigen. Ab dem kommenden Jahr sei zudem mehr Betreuungszeit in den Kitas für die Jüngsten geplant.
Für Serenay wird es keine zusätzliche Sprachförderung vor der Schule mehr geben. Sie ist wegen Sprachproblemen bei der Schuleingangsuntersuchung schon einmal für ein Jahr von der Schule zurückgestellt worden. Ein zweites Mal ist das nicht möglich. Serenay wird in fünf Wochen in die erste Klasse kommen.
Diese Recherche ist Teil einer Kooperation mit Corretiv.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt. Corrextiv.Lokal ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv, das sich durch Spenden finanziert.
Sendung: rbb24 Inforadio, 07.08.2025, 06:45 Uhr