In der Schillerstraße ist ein dicker Fisch ins Netz gegangen – und das weckt natürlich das Interesse der Passanten. Fast ein Dutzend von ihnen hat sich rund um einen Autoanhänger gruppiert, der an diesem Vormittag vor einem der vielen internationalen Supermärkte parkt. Auf der Ladefläche steht ein Mann mit weißer Schürze um den Leib, in beiden Händen einen Kescher, in dem er nun mit reichlich Gespritze eine Handvoll lebender Karpfen von beachtlicher Größe aus einem Becken in eine weiße Plastikwanne lupft – mutmaßlich, um sie später in dem Geschäft feilzubieten.
Wobei sich in der Schillerstraße noch ganz andere Fische herumtreiben, dicke wie kleine. Davon ist zumindest die Münchner CSU überzeugt, die kürzlich eine „erheblich verschlechterte“ Sicherheitslage beklagt hat in der 700 Meter langen Verbindung zwischen Hauptbahnhof und den Kliniken an der Nußbaumstraße. Demnach finde dort „regelmäßig offener Drogenhandel statt“. Und weiter: „Kriminelle Banden verbreiten ein Klima der Angst, Aggressivität herrscht, bedrohliche Situationen durch Gewalt und ständige Auseinandersetzungen bestehen, es erfolgt eine zunehmende Vermüllung.“ In der Folge fühlten sich Anwohner, Beschäftigte und Touristen unsicher, so die CSU. Überdies würden die Läden und Hotels in der Schillerstraße unter alledem leiden. „Das gefährdet die Existenzgrundlage der Betriebe.“
Es sind dies markige Worte, die teils wohl auch dem anlaufenden Kommunalwahlkampf geschuldet sind. Jedenfalls garniert die Partei ihren Warnruf mit einigen Sätzen ihres Oberbürgermeister-Kandidaten Clemens Baumgärtner, der mahnt: „Wegsehen ist keine Option.“ Die Schillerstraße müsse wieder ein Ort werden, „an dem sich Familien, Geschäftsleute und Touristen gerne aufhalten“, fordert Baumgärtner. Hierzu brauche es neben einer verstärkten Polizeipräsenz auch eine Videoüberwachung sowie mehr Patrouillen des Kommunalen Außendiensts (KAD).
Wie aufs Stichwort sieht man an diesem Vormittag – nur einen Steinwurf vom Karpfen-Abladen entfernt – zwei Beamte des KAD durch die Schillerstraße spazieren. Sonst ist zumindest zu dieser Tageszeit von einem Klima der Angst aber ebenso wenig zu spüren oder sehen wie von Dealern und Gewalt. Es herrscht reges Treiben: Autos kommen nur im Schritttempo voran, Touristen ziehen Rollkoffer zum Hauptbahnhof, allenthalben stehen Männer in Gruppen zusammen oder sitzen vereinzelt in Hauseingängen. Gefühlt alle paar Schritte tauchen die blickdichten Fenster eines Wettbüros auf; dazu gibt’s reichlich Juweliere, Handyshops und Friseure sowie das eine oder andere Rotlicht-Etablissement – aber auch charmante Cafés, hippe Büros und Hotels aller Preisklassen.
Eines davon, das „Schiller 5“, leitet Ulrike Kless-Böker, und sie kann die Klagen der Münchner CSU überhaupt nicht nachvollziehen. „Angst braucht man hier keine haben“, betont die Hoteldirektorin. Zwar seien der Dreck und die zahllosen Baustellen ein leidiges Thema im Bahnhofsviertel. Aber gerade im vergangenen Jahr sei vieles besser geworden, findet Ulrike Kless-Böker. Dies sei nicht zuletzt der städtischen Taskforce Bahnhofsviertel zu verdanken. „Diesen Weg müssen wir jetzt weitergehen“, fordert sie.
Anders bewertet das Reinhard Sigel, der einen Spielzeugladen in der nahen Landwehrstraße betreibt und Vorsitzender des Vereins Südliches Bahnhofsviertel ist. Er betont: „Die Situation rund um die Schillerstraße ist dramatisch.“ Daher habe sein Verein kürzlich einen Brandbrief ans Rathaus geschickt, worauf es vor wenigen Tagen einen Ortstermin mit Polizei und Kreisverwaltungsreferat gegeben habe. Um 21 Uhr sei man das Gebiet weiträumig abgegangen und habe all das angetroffen, worüber „jeder hier“ klage, so Sigel – also Drogen, Verwahrlosung und Angsträume.
„Geschäftsinhaber berichten uns, dass ihre Kunden sich nicht sicher fühlen“, sagt der Vereinschef. Dies spiegle sich auch in den Bewertungen vieler Hotels wider, worunter die Betriebe leiden. Ein Grund für die Verschlechterung der Sicherheitslage in jüngster Zeit sei die Situation im Alten Botanischen Garten, glaubt Sigel. Dort haben Stadt und Polizei etliche Maßnahmen ergriffen, um den einstigen Brennpunkt zu entschärfen. Dies sei auch gelungen, sagt Sigel. „Aber es hat zu Verdrängungseffekten ins südliche Bahnhofsviertel geführt.“
Seitens der Polizei will man dies nicht bestätigen. „Aufgrund vorliegender Schwankungen des Anzeigenaufkommens lässt sich derzeit kein klarer Trend im südlichen Bahnhofsviertel erkennen“, teilt eine Sprecherin mit. Rund um die Schillerstraße hätten die Deliktzahlen jedoch zugenommen. Der Schwerpunkt liege dabei auf Körperverletzung und Drogen, so die Polizeisprecherin. „Sie treten überwiegend szeneintern auf, haben aufgrund ihrer Wahrnehmbarkeit jedoch auch negative Auswirkungen auf die subjektive Sicherheit in diesem Bereich.“
Um hier gegenzusteuern, lege die Polizei ihr Augenmerk verstärkt aufs südliche Bahnhofsviertel. Dort werde häufiger kontrolliert, vor allem mit Blick auf die Rauschgiftszene. Zudem prüfe die Polizei eine Videoüberwachung in dem Bereich, sagt die Sprecherin. Diese Maßnahme hat sich im Alten Botanischen Garten als wirkungsvoll erwiesen; zuletzt wurde auch am Stachus ein neuer mobiler Videoturm aufgestellt.
An der Schillerstraße sei die Situation jedoch eine andere, gibt Reinhard Sigel zu bedenken. „Das ist deutlich komplexer als im Alten Botanischen Garten.“ Erschwerend hinzu kämen die zahllosen Baustellen im Viertel – zwei große finden sich auch am Anfang und Ende der Schillerstraße. „Da gibt es viele Möglichkeiten, Sachen zu verstecken“, sagt der Vereinsvorsitzende. Um die Sicherheitslage zu verbessern, plädiert er für mehr Präsenz durch Polizei und KAD, eine bessere Beleuchtung, häufigere Reinigung sowie eine Videoüberwachung rund um die Schillerstraße. Helfen könne auch mehr „soziale Kontrolle“, sagt Sigel, wofür es jedoch eine „andere Durchmischung im Viertel“ brauche.
Letzteres ist ein Ziel, das allenfalls mittelfristig erreicht werden kann; auf die Schnelle soll vor allem der verstärkte Einsatz der Polizei die Lage verbessern. Deren Sprecherin betont, dass man „eine Verschlechterung der Sicherheitslage nicht akzeptieren“ und „konsequent gegen Straftaten jeder Art vorgehen“ werde. Heißt also, dass auch der Polizei rund um die Schillerstraße die Fische ins Netz gehen sollen.