Vor 30 Jahren erschien ein Doppelalbum, das die Rockmusik der 90er-Jahre wie kein anderes dominierte – und auch die Karriere seines Schöpfers: In „Mellon Collie And The Infinite Sadness“, einer Bombast-Oper aus Metal, Grunge, Alternative Rock, Shoegaze und Dreampop, manifestierten sich 1995 Genialität und Größenwahn von Billy Corgan gleichermaßen.
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Um dieses Jubiläum weiß auch das Smashing-Pumpkins-Mastermind persönlich – und gibt sich seit geraumer Zeit endlich wieder redlich Mühe, all die vergleichsweise mediokren Alben, die seitdem in verschiedenen Besetzungen, aber stets unter seiner Dirigentschaft erschienen sind, nicht länger in den Mittelpunkt zu stellen.
Besinnung auf die Wurzeln
Dies zeigte sich bereits im Titel der „The World Is A Vampire“-Tour, benannt nach der ersten Zeile ihres Smash-Hits „Bullet With Butterfly Wings“, die sie im Juni 2024 in die Wuhlheide führte. In die Zitadelle Spandau bringt sie, nach 2007 und 2019, nun die „Aghori“-Tour, benannt nach ihrem aktuellen, 13. und gelungenen Album „Aghori Mori Mei“. Zum Glück aber war auch der gestrige Abend eine Hommage an die eigene Vergangenheit. Für alle Beteiligten.
Posieren wie in Zeiten von Hair-Metal: Oberkürbis Billy Corgan (r.) und Gitarristin Kiki Wong.
© IMAGO/Berlinfoto/imago
Zu Beginn droht das Konzert ein lahmes zu werden. Ohne Intro und scheinbar lustlos betreten The Smashing Pumpkins um 19.55 Uhr die Bühne. Hüne Corgan, wie gewohnt in Priester-Robe, ringt sich lediglich ein „What’s up?“ ab, spielt ausdruckslos die ersten Songs herunter. Wechselt auch im weiteren Verlauf für jeden die Gitarren, die wahlweise mit Aufklebern von „Star Wars“, „Micky Maus“, „Chop Suey“ oder Jesus Christus verziert sind. Nippt an seinem „Fiji“-Wasser. Haben der Boss und seine Angestellten heute Bock oder nicht?
Nach 20 Minuten zeigt sich: Er hat. Mit ausgebreiteten Armen erklärt er, dass er höchstselbst den Regen der vergangenen Tage beendet habe. Dann posiert er mit seinem Instrument, wie mit einem Luftgewehr, gibt den rund 8.000 Zuschauern mit „1979“, „Bullet with Butterfly Wings“ und „Today“ den ersten Hattrick an Hits, die Gelegenheit zum Mitsingen und sogar dem 2018 wieder eingestiegenen Gitarristen James Iha das Wort.
Fast die Besetzung aus den Neunzigern
Der sieht mit seinen Monitor-Ohrhörern, deren Halterungen aus seinem schwarzen langen Haar herausragen aus wie ein Verwandter des Elfen Legolas aus den Der-Herr-Der-Ringe-Filmen und darf sagen, dass er bei den „Mellon Collie“-Aufnahmen dabei war, dass sie zuletzt in Ludwigsburg auf einem ähnlich schönen Schloss spielten und dass auch ihm der folgende Fan-Liebling „Muzzle“ gefällt. Banalitäten eben.
Vertieft: Billy Corgan in der Zitadelle Spandau
© IMAGO/Berlinfoto/imago
Original-Drummer Jimmy Chamberlin, ebenfalls seit 2018 wieder an Bord, funktioniert hinter seinem Halbrund wie eine Batterie. Wäre Bassistin D’Arcy mit an Bord, stünde hier glatt die Originalbesetzung von 1995 auf der Bühne – ihr Ersatz, Jack Bates, gibt sich dafür ausgesprochen bewegungsfreudig. Für den Metal-Einschlag sorgt Gitarristin Kiki Wong, die einst mit Nylon Pink K-Pop-Songs coverte, mit Taylor Swift und Usher auftrat und 2024 nach einem Casting den ausgestiegenen Jeff Schroeder ersetzte.
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Für den Humor sorgt der nur an schlechten Tagen witzlos wirkende Scorpions-Fan Corgan selbst: Kann sich während eines minutenlangen Gniedel-Solos bei „Porcelina Of The Vast Oceans“ ein Grinsen nicht verkneifen. Lacht scheinbar über einen Verspieler Ihas, tatsächlich aber über einen Kürbiskopf im Publikum. Und covert in voller Länge „Take My Breath Away“ von Berlin, der „Top Gun“-Schmonzette aus dem Jahr 1986. Passt hier und jetzt ganz wunderbar, ist aber ein fester Bestandteil der aktuellen Tour-Setlist.
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Auch mit der Ballade „Disarm“ von ihrem ebenfalls wegweisenden `93er-Album „Siamese Dream“, den wütenden Krachern „Zero“ und „Bodies“, dem unter zunehmendem Dreiviertelmond wie für diesen ziemlich runden Abend gemachten „Tonight, Tonight“ und zwei Stunden ausgefüllter Spielzeit beweisen The Smashing Pumpkins: doch, doch. Corgan denkt als positiver Routinier wirklich wieder daran, was die alten Fans hören wollen. Ein stichprobenartiger Beweis?
Beim College-Radio-Nostalgiker „1979“ verdrückt meine 1975 geborene Begleitung eine Träne, schaut sich um und sagt: „Bin ich froh, dass ich nicht die einzige bin, die heulen muss. Da hängt was dran.“ Was genau denn für sie dran hänge, frage ich. „Naja“, antwortet sie rührselig: „Die besten Jahre.“