Der Gesichtsausdruck ist ernst und regungslos, die Körperhaltung aufrecht und starr, die Hände liegen im Schoß, ohne jede Gestik. Berthold Singer fällt es nicht leicht, über seine aktuelle Lage zu sprechen. Seit fünf Wochen ist der 71-Jährige nun hier in Behandlung, im Zentrum für seelische Gesundheit in Bad Cannstatt, das zum Klinikum Stuttgart gehört. Seine Diagnose: Altersdepression. Ein Krankheitsbild, das verstärkt Gegenstand öffentlicher Debatten ist, seit der bekannte schwäbische Unternehmer und Trigema-Chef Wolfgang Grupp deswegen einen Suizidversuch unternommen hat.
Die Depression kostet viel Kraft
Berthold Singer heißt eigentlich anders. Er ist nicht bekannt, und er will es auch nicht werden. Schon gar nicht mit diesem immer noch tabuisierten Thema. Er lebt im Norden der Region Stuttgart. Auch er hatte einmal eine Firma, ein kleines Handelsunternehmen. Heute wäre daran nicht mehr zu denken. Nicht nur wegen des Alters. „Unruhig und zittrig“ sei er, erzählt der 71-Jährige in ausdruckslosem Ton. „Und ich kann mich nur schlecht konzentrieren“, sagt er. „Es ist alles sehr anstrengend.“ Das gilt offenkundig auch für dieses Gespräch.
Angefangen hat alles mit Schlafstörungen. Bald darauf stellte sich ein Gefühl des Verfolgtseins ein. Da war es noch gar nicht lange her, dass seine Frau eine schlimme medizinische Diagnose erhalten hatte: Bauspeicheldrüsenkrebs. 67 Jahre alt war Regina Singer. 47 Jahre lang war das Paar verheiratet, immer zusammen, gemeinsam haben sie ihre Tochter großgezogen. Viel Zeit, Abschied zu nehmen, hatten sie nicht. Nur drei Monate nach der Diagnose war seine Frau tot. Das war schwer auszuhalten. „Ich konnte nicht helfen“, sagt der 71-Jährige über seine verstorbene Ehefrau, die die Krankheit doch so tapfer ertragen hat.
Den Renteneintritt erleben viele als Krise
Etwa zehn Prozent der Menschen über 65 Jahre leiden irgendwann einmal an einer Depression, sagt Stefan Spannhorst. Das sei kein höherer Wert als in anderen Altersklassen auch. Depressionen gehen in schweren Fällen mit Suizidalität einher. Was die Suizidraten angeht, so ist laut des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2023 die größte Betroffenengruppe die der 55- bis 59-Jährigen, erklärt der Leitende Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie für Ältere. Auf dem zweiten Platz: die 80- bis 84-Jährigen, dabei seien weit mehr als die Hälfte Männer. Von Depressionen wiederum sind Frauen insgesamt deutlich häufiger betroffen als Männer. Bei beiden Geschlechtern ist es oft der Renteneintritt, der ihnen seelisch zu schaffen macht, vor allem dann, wenn Menschen „ihren Selbstwert maßgeblich über die Leistung definiert haben“ und nun ein Gefühl der „Nutzlosigkeit“ entwickeln, sagt Stefan Spannhorst.
Etwa zehn Prozent der Menschen über 65 Jahre leiden einmal an einer Depression, sagt der Psychiater Stefan Spannhorst. Foto: Klinikum Stuttgart
Aber in vielen Fällen seien es auch chronische Schmerzen, die im Alter auftreten, die eine Depression auslösen. Insgesamt setzen vielen Senioren die mit dem Alter verbundenen Belastungen zu, die nachlassende Energie, Krankheiten, der Verlust von nahestehenden Personen, die wachsende Einsamkeit. Dabei gelten etwa ein Drittel der Fälle von Altersdepression als eher leicht, sagt der Psychiater Spannhorst. Gerade hier aber gebe es ein großes Dunkelfeld. So manche Antriebslosigkeit oder körperliche Beschwerde, die ihre Ursache in einer depressiven Episode hat, werde nicht erkannt. Mit der Folge, dass die unbehandelte Erkrankung sich mit der Zeit verschlimmert.
Schnell in die seelische Abwärtsspirale geraten
Berthold Singer leidet an einer schweren Depression. Zeitweise konnte er kaum mehr aufstehen. Dass er inzwischen über seinen Seelenzustand überhaupt sprechen kann, ist ein großer Fortschritt. Verschleppt hat Singer die Krankheit nicht. Es ging mit seinem Befinden sehr schnell stark bergab. Dass der Rentner in diese psychische Abwärtsspirale geriet, war auch nicht völlig überraschend. Er gehört zu den sogenannten rezidivierenden Fällen. Diese machen etwa ein Drittel aller Altersdepressionen aus, bei zwei Dritteln treten die Probleme erstmals im Alter auf.
Bereits vor zehn Jahren, da war er 61 und arbeitete noch, erlitt Berthold Singer schon einmal eine allerdings etwas schwächere depressive Störung. Eine gewisse Zeit nahm er auch damals Medikamente, bis die Erkrankung wieder völlig verschwand. Der Auslöser allerdings war sehr ähnlich wie jetzt auch: Seine Frau hatte erstmals die Diagnose Krebs erhalten. Das hat ihn schon damals aus der Bahn geworfen.
Erste Schritte zurück ins normale Leben
Inzwischen hat Berthold Singer aber das eine oder andere Lichtzeichen am Ende des düsteren Tunnels wahrgenommen. „Langsam geht es wieder ein bisschen besser, Stückchen für Stückchen“, sagt er. An seinem Mienenspiel lässt sich diese Verbesserung noch nicht ablesen. Neben einer Psychotherapie und der medikamentösen Behandlung tut ihm das Malen gut. Und er mache „gerne Gymnastik“, sagt er. Sein Hobby Sport will der 71-Jährige auch wieder betreiben, wenn er soweit ist und nach Hause kann, auch wenn das noch etwas dauern wird. Dann kann er wieder tun, was er schon seit Jahren macht: Daheim in seinem Fitnessraum hat er ein paar Geräte aufgestellt, an denen er regelmäßig trainiert. Auch wenn ihm seine geliebte Frau weiter fehlen wird.