Zwei Polizistinnen. Dezent am Rand des Botanischen Gartens zwar, aber unübersehbar. „Ist leider inzwischen so, wenn israelische Künstler irgendwo öffentlich auftreten“, zuckt Tilmann Herpichböhm, der künstlerische Leiter des Augsburger Jazzsommers, mit den Schultern. Es gibt keinen konkreten Anlass, keine Warnung. Deutschland im Jahr 2025. Die Personen, um die es geht, sind die Klarinettistin Anat Cohen und der Gitarrist und Bassist Tal Mashiach, beide versehen mit dem Prädikat „begnadet“, und beide gehen erstaunlich cool und entspannt damit um. Ebenso wie ihre großartigen Kollegen Vitor Gonçalves aus Brasilien (Piano und Akkordeon) und James Shipp aus den USA (Drums und Vibrafon). Natürlich passiert etwas – aber nichts, was die Ordnungshüter auf den Plan rufen müsste. Vielmehr wird es ein wunderbarer, friedlicher, ja grandioser Abend, bei dem einzig die vier Musiker auf der Bühne und die 500 Zuhörer im idyllischen Garten im harmonischen Wechselspiel agieren. Ein mehr als perfekter Abschluss für einen abwechslungsreichen Jazzsommer.

Anat Cohen ist Musikerin, in ihrem Fach nach Meinung von Kritikern und Lesern des amerikanischen Fachmagazins Down Beat sogar die Beste ihres Faches weltweit. Wenn die 50-Jährige aus Tel Aviv Luft durch ihre die Klarinette schickt, dann geschieht dies nie, um ihre überragende Technik zur Schau zu stellen. Das hat sie längst nicht mehr nötig. Jede geblasene Note klingt authentisch, so wie eine menschliche Stimme, die Geschichten erzählen will, die sich von Erfahrungen näheren, aber auch Träumen, Wünschen und Sehnsüchten Gestalt verleihen.

Anat Cohen schließt die Augen und wiegt den Kopf

Und Anat lebt in ihrer Musik. Allein ihre Gestik, wenn ihre Gefährten agieren, ist unbeschreiblich. Als Tal Mashiach mal einen Basslauf absondert, der sich tief in die Eingeweide bohrt, wedelt sie mit ihrer Hand, windet den ganzen Körper und verzieht genüsslich das Gesicht. Mit offenem Mund steht sie staunend lächelnd und wie eingefroren vor dem Flügel von Vitor Gonçalves, tanzt ausgelassen oder wiegt bei geschlossenen Augen mit unverkennbarem Glücksausdruck den Kopf. Wenn man den Ton abstellen würde, allein durch diese exaltierte Körpersprache ließe sich die Dynamik jener Musik erahnen, die gerade den Botanischen Garten verzaubert. Aber zum großen Glück kann man Anat Cohen und ihr Quartetinho ja hören.

Das Besondere an dieser multikulturellen Truppe, die Tür an Tür in Brooklyn lebt, ist die Einvernehmlichkeit im Tun, das Zelebrieren des Spielerischen auf allerhöchstem Niveau. Wer die über 100 hochspannenden Minuten bilanziert, der merkt erst, wie symbiotisch das Zusammenspiel funktioniert. Es gerät nie zur populistischen Samba-Choro-Bossa-Nova-Sause, sondern entwickelt sich zu einer feinen, abwechslungsreichen Melange aus persönlichen Vorlieben und Herkünften. Mit „The Night Owl“ beginnt Cohen, deren Brüder ebenfalls als Jazzmusiker weltweite Bekanntheit genießen, ihre Reise durch Gefühlswelten und Stimmungen: mal traurig, mal fröhlich – und häufig nachtaktiv! Mehr als nur Beiwerk sind der perkussive Klang von James Shipps funkelnden Vibrafon-Riffs und Mashiachs leise, eindringliche Pizzicato-Basslinie. „Coco Rococo“ hat sie zusammen mit Shipp geschrieben; eine spritzige Miniatur, die sogar in klassische Gefilde vordringt und die Cohen mit gewundenen, synkopierten Melodien verziert. Kaum jemand hätte Thelonious Monks Klassiker „Trinkle, Tinkle” erwartet, den die vier lustvoll mit neuen Ecken und Kanten versehen.

Überragende Hommage an einen überragenden Gitarristen

Einer der Höhepunkt des Abends an diesem „magical place“ (Anat Cohen) ist freilich „Paco“, die Hommage Tal Mashiachs an den großen spanischen Gitarristen Paco de Lucia. Die Gitarre flirrt wie ein Glühwürmchen im Halbdunkel, Vitor Gonçalves ergänzte das illuminierte Stimmungsbild auf 88 Elfenbeintasten, während Cohen wie ein Mauersegler über dem Thema kreist und sich durch den Aufwind in immer höhere Tonlagen tragen lässt. Spätestens in diesem Moment beginnen die Ersten im Publikum, die wohlige Mimik der Klarinettistin zu kopieren.

Der mithin einzige politische Kommentar Anat Cohens an diesem Abend bedarf eigentlich keiner Erklärung. „Going Home“ aus der Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ von Antonín Dvořák kündigt sie mit dem Satz an: „Eine neue Welt – das wäre gerade jetzt keine schlechte Idee.“ Dann beginnt Mashiach mit langsamen, tiefen Kontrabasslinien, Cohen gibt Dvorak mit der Bassklarinette einen satten, leicht melancholischen Touch, während Gonçalves am Akkordeon sowie Shipps Vibrafon-Riffs für die Jazz-Würze verantwortlich zeichnen. Noch eine wichtige Lektion: Quartetinho lehren uns, dass man das Publikum nicht pausenlos wie im Bierzelt zum Mitsingen nötigen muss. Wenn, wie beim Rausschmeißer „Poa Noite Povo“ (Gute Nacht Leute), längst ein Draht zwischen Musikern und den Publikum entstanden ist, kann Anat Cohen auch mal ohne Verstärker um den gesamten Rosenpavillon schreiten und dabei einfache, unverstärkte Harmonien auf ihrer Klarinette vorgeben, die sofort in ein kollektives Summen übergehen.

Nachdem der letzte Ton verklungen ist, stehen die beiden Israelis noch den begeisterten Menschen – natürlich unter den Augen der Polizistinnen – Rede und Antwort und verkaufen in einer Zeit, in der angeblich physische Tonträger ausgestorben sein sollen, CDs und LPs wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Was für ein einzigartiges Festival, in dem noch solch herrlich antizyklischen Momente entstehen!

  • Reinhard Köchl

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