Berlin taz | Auf dem eleganten schwarzen lackierten Sarg, unter dessen geschlossenem Deckel ein weißer, gemusterter Stoff hervorschimmert, liegt auf einem ukrainischen Handtuch ein frisch gebackener Brotlaib. Nach ukrainischer Tradition symbolisiert Brot das Leben – der Platz auf dem Sarg steht für den Respekt gegenüber der Verstorbenen und den Wunsch, dass ihre Seele in der jenseitigen Welt Frieden finden möge.
Fast ein Jahr nach ihrer Ermordung in russischer Gefangenschaft wurde die ukrainische Journalistin Wiktorija Roschtschyna an diesem Freitag in Kyjiw mit einer Zeremonie verabschiedet. Inmitten von Kerzen und begleitet von kirchlichen Gesängen wurde zunächst ein Trauergottesdienst in der Michaelskathedrale abgehalten – einem der bedeutendsten Symbole der orthodoxen Kirche in der Ukraine.
Hunderte Menschen kamen, um dem von Trauer gezeichneten Vater und der jüngeren Schwester der Journalistin, die mit tränenerfüllten Augen nebeneinander an der Seite des Sarges saßen und sich an den Händen hielten, ihr Mitgefühl zu zeigen. Unter den Anwesenden waren Kolleg:innen führender ukrainischer Medien, für die Wiktorija gearbeitet hatte, Vertreter:innen von Medienorganisationen, Freund:innen, Diplomat:innen mehrerer EU-Botschaften und viele andere Menschen.
Nach dem Gottesdienst bewegte sich der Trauerzug von der Kathedrale durch die Straßen von Kyjiw bis zum Unabhängigkeitsplatz. Dort nahmen zahlreiche Menschen kniend Abschied von der Journalistin, bevor die Beisetzung auf dem Baikowe-Friedhof erfolgte.
Zu Tode gefoltert
Wiktorija Roschtschyna war eine der wenigen ukrainischen Journalistinnen, die über russische Verbrechen in den besetzten Gebieten berichteten. Im Juli 2023 reiste sie in die Region Saporischschja, um die Existent von geheimen Haftzentren aufzudecken und FSB-Täter zu identifizieren. Dabei geriet sie selbst in Gefangenschaft – und wurde später ermordet.
Am 10. Oktober 2024 erhielt ihr Vater eine formelle Mail der russischen Militärpolizei: Seine Tochter sei am 19. September verstorben – ohne Angaben zur Todesursache. Erst sechs Monate später, im Februar 2025, wurde ihre Leiche im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen Russland und der Ukraine übergeben – in einem Sack mit der Aufschrift „unbekannter Mann, akute Verletzung der Koronararterien“.
Als die Ermittler den Sack öffneten, fanden sie jedoch die misshandelte Leiche einer jungen Frau – der gefrorene und mumifizierte Körper wies zahlreiche Blutungen und Quetschungen, gebrochene Knochen, Spuren von Elektroschocks, abrasierte Haare und Anzeichen für eine Autopsie auf. Eine genaue Untersuchung ergab, dass das Gehirn, die Augäpfel und ein Teil des Kehlkopfes fehlten.
Ein DNA-Test bestätigte eine Übereinstimmung von 99,9 Prozent und es wurde klar, dass Russland die Leiche der Ukrainerin erst eineinhalb Jahre nach ihrem Verschwinden zurückgegeben hatte.
Aus der Zelle geholt
Wiktorijas ehemalige Zellennachbarin berichtete, sie sei am 8. September zusammen mit anderen Gefangenen, die für den Austausch vorbereitet wurden, aus ihrer Zelle geholt worden, um eine Videoaufnahme mit Aussagen zu machen – danach verlor sich ihre Spur. Auch beim Austausch am 14. September tauchte sie nicht auf. Was mit der Journalistin passiert ist, ist nach wie vor unklar.
Ukrainische Ermittler:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und Journalist:innen vermuten, dass die Russen Wiktorijas Leiche der Journalistin absichtlich so lange zurückgehalten und einige Organe aus dem Körper entfernt hatten, um die Todesursache der 27-Jährigen zu verschleiern. Im Juli verlieh Präsident Wolodymyr Selenskyj Roschtschyna posthum den Freiheitsorden, eine der höchsten staatlichen Auszeichnungen der Ukraine.
„Ihr Kampfgeist war nicht zu brechen. Lediglich der menschliche Körper hat die Folter in russischer Gefangenschaft nicht überstanden. Wir werden unsere Kollegin Wiktorija in ewiger Erinnerung behalten und ihr unseren Respekt zollen. Wir werden alles tun, damit die Verbrecher, die sie getötet haben, bestraft werden. Respekt und Dankbarkeit allen Kolleg:innen, die weiterhin die Wahrheit über die Verbrechen Russlands sagen, über den Krieg berichten und dabei ihr Leben riskieren“, schrieb die Direktorin des ukrainischen Instituts für Masseninformation, Oksana Romaniuk, auf ihrer Facebook-Seite nach der Trauerfeier für Wiktorija Roschtschyna.
Als Kriegsverbrechen eingestuft
Laut der ukrainischen Polizei soll sich der ehemalige Leiter des Untersuchungsgefängnisses Nr. 2 in der russischen Stadt Taganrog wo die ukrainische Journalistin zum letzten Mal lebend gesehen wurde, der Folter, Misshandlung, Körperverletzung und Demütigung von Wiktorija Roschtschyna schuldig gemacht haben.
Die Ermittlungen ergaben, dass diese Verbrechen vorsätzlich organisiert waren: Der Leiter der Haftanstalt soll seinen Untergebenen persönlich Anweisungen gegeben haben, um physischen und psychischen Druck auf die Journalistin auszuüben.
Nach internationalem humanitärem Recht werden die Handlungen des Verdächtigen als Kriegsverbrechen eingestuft, für die es keine Verjährungsfrist gibt. Im Falle seiner Festnahme und Verurteilung drohen ihm bis zu zwölf Jahre Freiheitsentzug. Die Ermittlungen dauern an. Sie betreffen weitere Personen, die sich an Kriegsverbrechen gegen ukrainische Soldaten und Zivilgefangene in russischen Haftanstalten beteiligt haben.