Ein umfassender bilateraler Vertrag zwischen Deutschland und Großbritannien wird nicht wie geplant ratifiziert werden und steht vor einer ungewissen Zukunft, wie Euractiv erfahren hat. Dies gefährdet eine der zentralen außenpolitischen Prioritäten des britischen Premierministers Keir Starmer.
Der britische Premierminister und sein Amtskollege Olaf Scholz kündigten während Starmer’s Besuch in Berlin im August ihre Absicht an, einen umfassenden bilateralen Vertrag zu unterzeichnen – den ersten seiner Art zwischen den beiden Staaten.
Die Verhandlungen schritten schnell voran und ein Abschluss des Vertrags wurde im Januar erwartet. Doch die Ankündigung von vorgezogenen Bundestagswahlen hat die Bemühungen zunichtegemacht.
„Eine Ratifizierung des Vertrages in der laufenden Legislaturperiode erscheint mit Blick auf die vorgezogenen Neuwahlen des Deutschen Bundestags wenig aussichtsreich“, hieß es nun aus der Bundesregierung.
Eine Woche nach dem Koalitionsbruch, der von internen Machtkämpfen geprägte war, beschloss Scholz, die Neuwahlen für Februar anzusetzen. Die SPD liegt in den Umfragen weit hinter der CDU, womit eine Wiederwahl Scholz unwahrscheinlich ist. Damit bleibt ungewiss, ob der Vertrag mit Großbritannien je das Licht der Welt erblicken wird.
Nils Schmid, der außenpolitischer Sprecher der SPD, hatte zuvor gegenüber Euractiv erklärt, dass die Verhandlungen im Januar abgeschlossen werden sollten. Dies entspräche der offiziellen Kommunikation, damit der Bundestag den Vertrag vor der Sommerpause verabschieden könne.
Aufgrund der vorgezogenen Neuwahlen würde der unvollendete Vertrag jedoch dem „Diskontinuitätsprinzip“ zum Opfer fallen, hieß es jetzt aus der Bundesregierung. Das Prinzip besagt, dass Gesetzesvorschläge, die innerhalb der Amtszeit nicht verabschiedet wurden, verworfen und neu aufgesetzt werden müssen, wenn sie wieder aufgenommen werden sollen.
Vor diesem Hintergrund wurden die laufenden Verhandlungen nach Informationen von Euractiv so gut wie eingestellt. Die kommende Bundesregierung wird entscheiden müssen, ob sie den bilateralen Vertrag weiterverfolgen will und was dann darin enthalten sein soll.
„Gesamte Bandbreite der Beziehungen“
Es ist ein harter Schlag für Starmer, der in Berlin sagte, dass der Vertrag Teil seines „Neustarts“ mit der EU nach dem Brexit sein würde, nachdem sich die Beziehungen unter seinen konservativen Vorgängern verschlechtert hatten. Laut Scholz habe es einen Vertrag, „der das gesamte Spektrum unserer Beziehungen widerspiegelt“, „noch nie“ zuvor gegeben.
Scholz‘ Verbündeter Schmid verglich die Bedeutung des Dokuments mit dem „Vertrag von Aachen“ von 2019. Dieser hob die deutsch-französischen Beziehungen auf eine neue Ebene und richtete unter anderem eine gemeinsame parlamentarische Versammlung ein.
Der Vertrag sollte den Austausch zwischen den beiden Regierungen und Parlamenten institutionalisieren. Wünschenswerte Formate wie regelmäßige Treffen zwischen parlamentarischen Ausschüssen sollten ein Bestandteil davon sein, sagte Schmid. Außerdem würde auch eine engere kulturelle Verflechtung angestrebt werden.
Die Ziele stimmen mit denen der britischen Seite überein, die sich wünscht, dass das Abkommen praktische Auswirkungen auf das Leben der Bürger habe, aber auch seinen Fokus auf Wachstum widerspiegele, heißt es aus der britischen Regierung gegenüber Euractiv.
Deutschland hatte zuvor unter der Starmer-Regierung sein erstes Verteidigungskooperationsabkommen mit Großbritannien unterzeichnet.
Vor der Bekanntgabe der vorgezogenen Bundestagswahlen seien die Verhandlungen „in einem beispiellosen Tempo“ vorangeschritten, heißt es von Seiten der britischen Regierung. Normalerweise dauern bilaterale Vertragsverhandlungen „Jahre“, während diese „innerhalb weniger Monate abgeschlossen“ werden sollte.
Scholz-Nachfolger
Starmer muss nun seine Hoffnungen begraben, das Abkommen mit der Schwesterpartei seiner Labour Party, der SPD, abzuschließen. Stattdessen muss er wahrscheinlich zukünftig mit CDU-Chef Friedrich Merz zusammenarbeiten, der als Favorit für das Kanzleramt im nächsten Jahr gilt.
CDUs außenpolitische Sprecher Jürgen Hardt, zeigte sich diesbezüglich zuversichtlich. Die deutsch-britischen Beziehungen seien „zu wichtig, um sie der Regierung des gescheiterten Bundeskanzlers Olaf Scholz zu überlassen“, sagte er gegenüber Euractiv.
Hardt vermied es, sich ausdrücklich zu einem neuen Vertrag zu verpflichten, sagte aber, die neue Bundesregierung „wird sich dieses Themas unverzüglich annehmen und verschiedenste Kooperationsformen etablieren … [und] eine noch festere Grundlage“.
Aus der Bundesregierung heißt es, dass das „fortgesetzte Interesse, die bilaterale Zusammenarbeit weiter zu vertiefen“ darauf hindeutet, in der nächsten Amtszeit eine starke Unterstützung für die Unterzeichnung des Vertrags zu haben.
Starmer plant auch weiterhin, einen umfassenden Vertrag mit der EU auszuhandeln, wie die Times bereits berichtete. Er könnte substanziellere politische Maßnahmen in Bereichen abdecken, die im deutsch-britischen Vertrag nicht enthalten sein könnten, da Themen wie der Handel nach dem Brexit, Migration und die Mobilität von Jugendlichen in die Zuständigkeit der EU fallen. Schmids Einschätzung nach würde ein EU-Vertrag komplexer sein und länger dauern.
Wie ein Kanzler Friedrich Merz die EU nach rechts rücken würde
Am Montag stellt sich Friedrich Merz seiner konservativen europäischen Parteienfamilie offiziell als Kanzlerkandidat der Union vor. Während Merz dem Thema Europa viel Aufmerksamkeit schenkt, scheint seine pro-europäische Vision vor allem eine andere, rechtere EU zu sein.
[Bearbeitet von Rajnish Singh/Kjeld Neubert]