Am 11. November 2022 begrüßten jubelnde Menschen in der südukrainischen Großstadt Cherson Soldaten, die in ihre Stadt einrückten. Die einzige Regionalhauptstadt in der Ukraine, die Russland seit Beginn der Invasion erobern konnte, wurde an diesem Tag wieder befreit. Zuvor hatten Tausende russische Soldaten das Westufer des Flusses Dnipro, an dem die Stadt liegt, verlassen – solange die Antoniwkabrücke noch stand, die in den Vorwochen vom ukrainischen Militär schwer beschossen worden war. 

In den vergangenen Tagen geriet in Cherson erneut eine Brücke wiederholt unter Beschuss. Jedoch keine, die Cherson mit den russisch besetzten Gebieten östlich des Flusses verbindet, sondern eine Brücke innerhalb der Stadt. Sie ist die einzige mit Autos befahrbare Verbindung zwischen dem Stadtteil Korabel im Süden Chersons und dem Rest der Stadt. Für die weniger als 2.000 Menschen, die im Korabel-Bezirk leben – der auch Ostriw, „Insel“ genannt wird – ist sie zugleich die einzige Verbindung zur restlichen freien Ukraine. 

Russische BefestigungsanlagenRussische Kontrolle Vortag seit Kriegsbeginn vor KriegsbeginnZurückerobert Vortag seit Kriegsbeginn Zusätzl. erobertQuelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Am Samstag verbreiteten russische Militärblogger von Drohnen aufgenommene Videos, die gewaltige Explosionen in Korabel sowie auf ebenjene Brücke zeigten. Die Regionalverwaltung Chersons veröffentlichte später ebenfalls ein Video, auf dem ein Einschlagskrater zu sehen ist, der eine Fahrbahn blockiert. Am Sonntag schlugen erneut Bomben ein: eine von ihnen auf der Brücke, eine weitere in Korabel. Russische Militärblogger sprechen von drei Tonnen schweren Gleitbomben, die die Explosionen ausgelöst haben sollen. Mutmaßlich sind die Bomben kleiner – doch möglicherweise immer noch schwer genug, um eine Brücke zum Einsturz zu bringen.

© Lea Dohle

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„Riskieren Sie ihr Leben nicht“, rief Chersons Gouverneur Oleksandr Prokudin die Bevölkerung von Korabel auf, „fahren sie weg.“ In den vergangenen Tagen sind laut Prokudin 400 Menschen in Sicherheit gebracht worden. Falls die Brücke nach weiteren Angriffen einstürzt, warnen örtliche Behörden, gäbe es keine Möglichkeiten zur Evakuierung mehr. Denn so nah an der Front ist die Gefahr allgegenwärtig: Von fast 300 Drohnenangriffen täglich berichtet die örtliche Verwaltung, dreimal mehr als im Frühjahr. Medienberichten zufolge war es schon vor den Angriffen auf die Brücke schwierig, den Bezirk mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Keine einzige Apotheke sei noch in Betrieb. Dazu: häufige Unterbrechungen der Versorgung mit Strom, Wärme und Wasser. 

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In der Stadt Cherson lebten vor dem Krieg 280.000 Menschen, mehr als ein Viertel der Einwohner der gleichnamigen Region, die derzeit zu drei Vierteln russisch besetzt ist. Jetzt sind es noch 65.000, zwei Drittel davon älter als 60 – eine ähnliche Entwicklung wie in anderen ukrainischen Frontstädten, wo es ebenfalls hauptsächlich ältere Einwohner sind, die bis zuletzt ausharren. Dennoch ist die Situation in Cherson einzigartig: Andere frontnahe Regionalhauptstädte wie Saporischschja, Sumy und Charkiw werden auch intensiv beschossen, liegen aber je etwa 30 Kilometer hinter der Front. Cherson hingegen trennt nur die wenige Kilometer breite Dnipro-Mündung vom russisch besetzten Gebiet. 

Als die Ukraine die Stadt befreite, verlor Russland mit ihr auch das gesamte zuvor eroberte Gebiet westlich des Dnipro. Von dort war in den ersten Kriegstagen ein russischer Vorstoß ins Landesinnere gescheitert. Russlands Präsident Wladimir Putin fordert als Bedingung für ein Kriegsende nicht umsonst die Übergabe von Cherson. Denn damit stünde ihm ein permanenter Brückenkopf auf dem Westufer des Dnipro zur Verfügung – Tausende Quadratkilometer Gebiet, von denen aus die westliche Ukraine attackiert werden könnte.

Dementsprechend frohlockten russische Militärblogger in den Tagen nach den Angriffen auf die Brücke nach Korabel: Ihre Armee bereite einen Angriff auf die Stadt selbst vor, Korabel solle von der Versorgung abgeschnitten und später von Luftlandeeinheiten eingenommen werden. Die Inseln im Dnipro-Delta, seit Jahren eine graue Zone zwischen den Fronten, würden schließlich schon vermehrt angegriffen. Das wiederum bestätigen auch die ukrainischen Behörden in Cherson: Täglich komme es zu Kämpfen auf den Inseln, in den vergangenen Wochen hätten sich die Angriffe gehäuft. 

Russische BefestigungsanlagenRussische Kontrolle Vortag seit Kriegsbeginn vor KriegsbeginnZurückerobert Vortag seit Kriegsbeginn Zusätzl. erobertQuelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Eine tatsächliche Landeoperation der Russen in Cherson befürchten die örtlichen Behörden aber nicht. Würde Russland eine Offensive auf die Stadt planen, müsste es größere Kräfte in der Nähe bündeln. Derzeit beobachte man nichts dergleichen, sagte der Sprecher Wladislaw Woloschyn vom ukrainischen Militärkommando Süd der Nachrichtenagentur RBK Ukrajina. Die Beobachtungen der vergangenen Jahre geben Woloschyn recht: Dass die unbemerkte Truppenkonzentration für einen schweren Angriff auf dem von Drohnen permanent beobachteten Schlachtfeld kaum noch möglich ist, plagt beide Armeen. 

Die Ukrainer sprechen aus eigener Erfahrung, wenn sie, wie Woloschyn, bestreiten, dass kleine russische Einheiten auf Booten nach Korabel vorstoßen und dort einen Brückenkopf einrichten könnten. Denn mit diesem Versuch ist schon die ukrainische Armee in der Region gescheitert. Zwischen Oktober 2023 und vergangenem Sommer hielt sie am Ostufer des Dnipro, von Cherson aus 40 Kilometer flussaufwärts, eine kleine Zone um das Dorf Krynky.

Was als Versuch begann, einen Brückenkopf zu errichten und die zu dem Zeitpunkt bereits gescheiterte Gegenoffensive in einem schwach befestigten Gebiet wiederzubeleben, endete in einem Fiasko. Mehr als 1.000 ukrainische Soldaten ließen bei den Versuchen, sich im flachen, sumpfigen Gelände auf den Dnipro-Inseln und auf dessen Ostufer festzusetzen, ihr Leben. Zwar konnten sie monatelang einen viel größeren russischen Heeresverband binden und somit dessen Teilnahme an Kämpfen in anderen Frontgebieten verhindern, doch der Preis dafür war hoch. Die Erfahrung von Krynky bestätigt, dass die Überquerung des Dnipro auf Booten gefährlich und wenig aussichtsreich ist. Weder der ukrainischen noch der russischen Armee ist das in mehr als drei Jahren Krieg gelungen.

Den Beschuss des Korabel-Bezirks erklären die örtlichen Behörden daher mit der Lage des Stadtteils. Direkt am Dniproufer bietet er, mit mehreren Wohnhochhäusern, potenziellen Schutz für ukrainische Soldaten, die sich von dort aus gegen die Angreifer vom Ostufer wehren könnten. Es sei nicht überraschend, dass Russland dort eine „tote Zone“ einrichten wolle, wo keine als Stellung nutzbaren Bauten mehr stünden, sagt Militärsprecher Woloschyn. Nichts anderes geschehe an anderen Teilen des westlichen Dniproufers – wie auch entlang der gesamten Frontlinie: Alles in einer Tiefe von bis zu sieben Kilometern hinter der Front werde zerstört. Evakuierungen entlang des Dniproufers hatte die Ukraine bereits im Juli angeordnet, eine Woche vor den Angriffen auf die Brücke.

Für die Einwohner Chersons sind die Angriffe vor allem die Fortführung des Terrors, dem sie seit der Befreiung der Stadt ohnehin permanent ausgesetzt sind. Schon kurz nach ihrem Rückzug aus Cherson hatten die russischen Truppen begonnen, die Stadt, die sie noch kurz zuvor für russisch erklärt hatten, mit Artillerie zu bombardieren. Ab dem vergangenen Sommer kamen Drohnenangriffe dazu – mit kleinen First-Person-View (FPV)-Drohnen, wie sie an der Front gegen Soldaten eingesetzt werden. In Cherson aber attackieren sie regelmäßig Zivilisten, in Bussen, in Autos, auf Fahrrädern. Die Vereinten Nationen widmeten dem von einigen Einwohnern „Menschensafari“ genannten wahllosen Attacken auf Zivilisten vor wenigen Monaten einen separaten Bericht (PDF), in dem sie den Angreifern Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwerfen, mit mehr als 150 Toten und Hunderten Verletzten in der Stadt und um sie herum.

Letzteres verbirgt die Propaganda der Angreifer kaum. Vor allem in einem russischen Telegramkanal mit mehr als 50.000 Followern, der täglich über Angriffe in der Region berichtet und sie bewirbt, wird den Einwohnern der befreiten Großstadt unverhohlen „Jagd“ auf sie angedroht. Zwei Sätze, die in den Mitteilungen auf dem Kanal in den vergangenen Tagen immer wieder auftauchten: „Jegliche Bewegung von Autos wird als legitimes Ziel verstanden. Jedes Objekt der kritischen Infrastruktur ist ein legitimes Ziel.“ 

„Hier ist für immer Russland!“ steht auf einem Plakat, das ein Arbeiter in Cherson wenige Tage nach der Befreiung der Stadt im November 2022 abreißt. © Oleksandr Gimanov/​AFP/​Getty Images

© Andre Alves/​Anadolu/​Getty Images


1262 Tage


seit Beginn der russischen Invasion

Die wichtigsten Meldungen: Trump-Putin-Gipfel und Russlands Defizit

USA und Russland: US-Präsident Donald Trump und Wladimir Putin wollen sich persönlich treffen. Bereits in der kommenden Woche soll es laut russischen und US-amerikanischen Angaben so weit sein, möglicherweise in einem arabischen Staat. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird aber nicht dabei sein: Dafür seien die „Voraussetzungen“ nicht erfüllt, sagte Putin kurz nach Bekanntwerden des geplanten Treffens mit Trump. Selenskyj einzubeziehen, hatte russischen Angaben zufolge Trumps Gesandter Steve Witkoff bei seinem Moskau-Besuch am Mittwoch vorgeschlagen – offensichtlich erfolglos.

Der russische Präsident dürfte vor allem hoffen, die von Trump gesetzte Frist, ehe der US-Präsident härtere Sanktionen verhängen will, zu verlängern.
Womöglich ist ihm das schon durch die Ankündigung des Treffens
gelungen: Die Frist, ab der Trump ursprünglich hohe Zölle gegen
Importeure russischen Öls verhängen wollte, läuft an diesem Freitag ab.

Wladimir Putin begrüßt am 6. August Donald Trumps Gesandten Steve Witkoff in Moskau. © Gavriil Grigorov/​Sputnik/​Reuters

Russische Finanzen: Der russische Staatshaushalt hat ein deutlich größeres Defizit als die Haushaltspläne der Regierung es vorsahen. Seit Jahresbeginn habe der Staat bereits knapp 53 Milliarden Euro mehr ausgegeben als er einnahm, teilte das Finanzministerium in Moskau mit. Während die Einnahmen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um knapp drei Prozent gestiegen seien, waren die Ausgaben um fast 21 Prozent höher. 

Ursprünglich war für dieses Jahr ein Defizit von 41 Milliarden Euro vorgesehen, die Summe ist somit schon nach sieben Monaten um ein Viertel überschritten. Das Finanzministerium gibt als wichtigste Ursache niedrigere Einnahmen aus Energieexporten an. So hatte Russland im Juni knapp 600 Millionen Euro täglich mit dem Export von Öl, Gas und Kohle eingenommen – etwa halb so viel wie 2022.

Das Zitat: Vertrauen in Selenskyj gesunken

Die Entmachtung der unabhängigen ukrainischen Antikorruptionsbehörden Ende Juli hat zu den ersten größeren Protesten in ukrainischen Städten seit Kriegsbeginn geführt. Ein im Eilverfahren verabschiedetes Gesetz unterstellte die Antikorruptionsbehörden dem Generalstaatsanwalt, der wiederum direkt von Selenskyj ernannt wird. Zunächst verteidigte der Präsident sein Vorgehen, später gab er dem Druck aber nach: Ein neues Gesetz stellte die Unabhängigkeit der Behörden wieder her, kurz darauf nahmen sie mehrere Politiker wegen Korruptionsverdachts fest

Nicht nur auf der Straße schlug sich der Unmut über das Vorgehen gegen die Korruptionswächter nieder, sondern auch in Umfragen. Das Vertrauen in den Präsidenten ist deutlich geschrumpft, wie das Kyjiwer Internationale Institut für Soziologie (KIIS) am Dienstag mitteilte. Demnach geben 58 Prozent der Menschen an, Selenskyj zu vertrauen – sieben Prozentpunkte weniger als im Juni, 16 Prozentpunkte weniger als im Mai. 

Unter den Gründen für ihr Misstrauen gaben die Befragten vor allem zwei Vorwürfe gegenüber dem Präsidenten an. 20 Prozent legen ihm eine unzureichende Vorbereitung auf die russische Invasion zur Last – seit Langem ein Dauermotiv der Kritik an Selenskyj, der die Gefahr einer Invasion lange heruntergespielt und auf Diplomatie gesetzt hatte. Doch Grund Nummer eins, mit 21 Prozent: Korruption. Während sich einige Befragte laut KIIS direkt auf den Skandal um die Antikorruptionsbehörden bezogen, gehe es den Menschen vor allem darum, dass viele Korruptionsverfahren zwar eröffnet würden, aber mit milden Strafen endeten. Die Stimmungslage beschrieb das Institut so: 

Verschiedene Umfragen deuten auf eine scharfe Wahrnehmung von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft hin, vor allem im Kontext eines voll umfassenden Krieges und der ungleichen Verteilung seiner Lasten auf verschiedene soziale Schichten der Bevölkerung.

Kyjiwer Internationales Institut für Soziologie (KIIS)

Der Ostcast – :
Russlands übermächtiger Freund China

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Waffenlieferungen und Militärhilfen: Ein neuer Mechanismus und Kanonenreparatur

  • Die Niederlande haben als erster Staat mit einer Summe von 480 Millionen Euro einen Beitrag für den neuen Zahlungsmechanismus der Nato für Waffenlieferungen an die Ukraine geleistet. Im Rahmen des sogenannten Purl-Programms (Prioritised Ukraine Requirement List) soll das Geld in die Beschaffung von Munition fließen. So sollen künftig Waffenlieferungen der USA von europäischen Ländern bezahlt werden. 
  • Ein zweites Paket von ebenfalls 480 Millionen Euro wird von Norwegen, Dänemark und Schweden finanziert. Zuvor hatten die skandinavischen Länder angekündigt, die ukrainische Luftverteidigung stärken zu wollen.
  • Das US-Außenministerium hat einen Auftrag im Umfang von 100 Millionen Dollar an das Unternehmen BAE Systems vergeben, das Haubitzen des Typs M777 für die ukrainische Armee reparieren soll. Die Ukraine hat seit Kriegsbeginn etwa 200 solcher Artilleriesysteme, hauptsächlich von den USA erhalten. Weitere 100 Millionen Dollar sollen in Ausbildung und Logistik fließen.

Ukrainische Soldaten feuern im Juni 2023 in der Region Donezk aus einer M777-Haubitze. © Genya Savilov/​AFP/​Getty Images

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