Viele Gespräche im Leben als Gewerkschafter
Mario Reiß sagt: „Ich weiß, dass ich die Gesichter kenne, kann aber nicht immer die Namen zuordnen.“ Zu viele Gespräche waren das in den vergangenen 33 Jahren, seitdem er Gewerkschaftsverantwortlicher ist, zuerst ab 1992 in Torgau, dann im GdL-Bezirk Halle, später in der Bundestarifkommission. Seit September ist er Bundesvorsitzender der Lokführergewerkschaft. Er vertritt die Interessen von rund 40.000 Mitgliedern, ist auf Arbeitgeberseite aber auch Chef für die Beschäftigten der Gewerkschaft. Schlosseranzug und Lokführer-Uniform sind längst feineren Anzügen gewichen. „Dabei wollte ich nie am Schreibtisch sitzen“, erzählt der Nordsachse.
Lokführer Matthias Kluge hat die Gespräche vor Jahren mit Reiß nicht vergessen, als es um seinen Arbeitsplatz bei DB Cargo ging. Heute arbeitet Kluge im Fernverkehr Erfurt als Lokführer. Auf Reiß lässt er nichts kommen: „Ich hatte viele gute Gespräche mit ihm geführt als ich den Betrieb wechseln wollte. Er hat mich sehr unterstützt, war immer für mich da. Top-Mann.“
Immerzu Vergleiche mit Vorgänger Weselsky
Seit September 2024 ist Mario Reiß Nachfolger des streitbaren Claus Weselsky. Seither hat Reiß keinen Medienbeitrag und kein Interview erlebt, in dem er nicht mit Weselsky verglichen wurde. Mit dem knurrigen Dresdner, der 16 Jahre lang die GdL anführte, der von Lokführern fast verehrt und von Bahnkunden nach mehr als 200, manchmal tagelangen Bahnstreiks auch gehasst wurde. „Ich bin mit Claus groß geworden. Er hat einfach eine Art, die Menschen mitzureißen. Das ist eine Gabe, die ich nicht habe – obwohl Reiß in meinem Nachnamen steht“, sagt Mario Reiß schmunzelnd. Weselsky sieht er als Stütze: „Wir sehen uns fast jede Woche. Ich nutze ihn in der Beratung sehr oft. Denn er hat eine Lebenserfahrung, die ist nicht zu ersetzen“.
Anderer Führungsstil: „Viel ruhiger“
Den Vorgänger nachzuäffen, komme für ihn nicht in Frage. In der Öffentlichkeit will Reiß als neuer GdL-Vorstand aber mehr das Wir betonen. Konträre Gespräche wollten er und seine beiden Stellvertreter „vielleicht nicht in der bekannten Lautstärke führen“. Man könne heutzutage mit Vernunft und ohne Lautstärke viel erreichen.
Ich versuche den Weg hinter den Türen zu begradigen.
Mario Reiß
Seit Herbst 2024 Vorsitzender der GdL
Der Betriebsratsvorsitzende bei der DB Cargo, Thorsten Reichelt, sagt zum anderen Führungsstil nach Weselsky: „Herr Reiß ist ein Kämpfer für die Interessen der Beschäftigten. Er hat sich nie verbiegen lassen und war immer stark.“ Mit dem Vorgänger sei er nicht vergleichbar. „Mario Reiß ist ein viel ruhiger Vorsitzender als Claus Weselsky. In der Sache ruhig bleiben, erzeugt vielleicht weniger Gegenwind, als wenn man laut und so medienpräsent ist wie Claus Weselksy das war.“
Herrn Reiß platzt die Hutschnur, wenn man ihn persönlich angreift und wenn er Ungerechtigkeiten verspürt.
Thorsten Reichelt
Betriebsratsvorsitzender bei DB Cargo und langjähriger Kollege von Reiß
Der ernste Organisator
Reiß selbst sieht sich als eher ernsten Menschen, der organisiert und akribisch vorbereitet. Das macht er meist auf Bahnfahrten. Weil sein Wohnort Süptitz nicht an die Bahn angebunden ist, fährt er mit dem Audi nach Falkenberg oder gleich bis Berlin. „Dort stelle ich das Auto ab und fahre mit der Bahn zu Terminen.“ Oft sitze er zwölf Stunden am Tag in Zügen, kommt auf mindestens 40.000 Bahnkilometer im Jahr. „Besser als im Zug kann man unterwegs nicht arbeiten.“ Seine Bahncard 100 ermöglicht ihm das in der 1. Klasse. Privat mit seiner Ehefrau fährt er in der 2. Klasse. „Ich denke da effizient, aus Kostengründen. In der 2. Klasse sitze ich ja genauso gut wie in der 1. Klasse, wenn ich nicht arbeiten muss.“
Unpünktlichkeit der Bahn „schmerzt“
Bis zu 50.00 Kilometer pro Jahr verfährt der Nordsachse aber auch mit Auto. „Es geht oft nicht anders, weil wir das mit der Pünktlichkeit der Bahn nicht hinkriegen. Das schmerzt, denn laut Fahrplan könnte man ja ankommen. Das sagen mir so viele, die geschäftlich mit der Bahn fahren wollen, es aber nicht tun wegen der Unpünktlichkeit.“ Die Stimmung bekomme er nicht nur in Lokführerrunden mit, sondern auch, wenn er im ICE-Bistro sitzt oder zu Hause angesprochen wird. Die Top 3-Ärgernisse für Bahnkunden seien: „1.000 Ausreden, warum der Zug nicht kommt oder zu spät ist, fehlendes Personal und hohe Fahrpreise für keine Leistung“.
„Ich kriege alle Sorgen erzählt. Aber es macht mir Spaß zu helfen. Das war schon immer so.“ Mario Reiß findet, Helfen sei die beste Sache des Lebens. „Wenn ich helfen kann, bin ich im Herzen glücklich.“ Das habe er von seiner „streng katholischen Oma“. Bei der gebürtigen Ostpreußin, die als Postbotin bei Torgau arbeitete, sei er aufgewachsen. „Ihr beim Helfen und Dasein für andere zuzusehen, hat mir Spaß gemacht.“