Frau Reiche, vor drei Monaten wurden Sie vereidigt, damit sind auch die ersten 100 Tage bald rum. Ihr Fazit bitte: Wo hat man mehr Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen – als Chefin eines Energieversorgers oder als Wirtschaftsministerin?
KATHERINA REICHE: Ich war sehr gern bei der Westenergie tätig. Nun habe ich aus Überzeugung Verantwortung in der Bundesregierung übernommen. Die Abläufe in Wirtschaft und Politik sind verschieden. Im Konzern sind die Entscheidungslinien klar. In der Politik sind sie komplexer, weil bei Entscheidungen viel mehr Seiten eingebunden werden. Das Parlament, die Koalitionsparteien, die Länder, die Unternehmen, die Verbände, die Bürger. Das sind längere Prozesse. Und das ist das Wesen unserer Demokratie.
Warum sind Sie nach einigen Jahren in die Politik zurückgekehrt? Sie verzichten auf Geld und stehen viel stärker in der Öffentlichkeit.
REICHE: Diesen Schritt habe ich mir reiflich überlegt. Ich sehe die schwierige wirtschaftliche Lage, in der unser Land steckt, als Antrieb, die Dinge zum Besseren zu wenden. Es ist eine Ehre, von Bundeskanzler Friedrich Merz gebeten zu werden, Verantwortung zu übernehmen. Der Kanzler beschreitet mit der Berufung von Digitalminister Karsten Wildberger, Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und mir neue Wege, weil wir mit wirtschaftlicher Erfahrung kommen. Wir bringen Perspektiven und Erfahrungen mit, die dabei helfen können, gemeinsam das Schiff wieder auf Kurs zu bringen.
Wie zufrieden sind Sie mit den ersten 100 Tagen?
REICHE: Wir brauchen wieder Wachstum. Deutschland muss wieder wettbewerbsfähig werden. Wir haben als Bundesregierung in den ersten knapp 100 Tagen eine Menge geschafft. Die Maßnahmen des Sofortprogramms haben wir im Wesentlichen schon umgesetzt, zum Beispiel die Sonderabschreibung für Investitionen und die erste Unternehmenssteuersenkung seit 2008. Diese Woche haben wir mit 23 Gesetzen, sechs davon aus meinem Haus, weiter nachgelegt: Wir entlasten die Unternehmen und Bürger bei den Energiekosten, wir bauen Bürokratie ab. Etwa bei der öffentlichen Beschaffung entlasten wir Unternehmen und Verwaltung um 380 Millionen Euro. Und wir steigen in neue Technologien wie die Abscheidung, Speicherung und Nutzung von CO2 ein. Daran hängen ganze Branchen wie die Zement- oder Kalkindustrie, die anders gar nicht CO2-neutral werden können.
Reicht das aus?
REICHE: Sicher noch nicht. Der Standort Deutschland steht unter massivem Wettbewerbsdruck. Ein Beispiel: Deutschland verliert nach Schätzungen derzeit jeden Monat rund 10.000 Industriearbeitsplätze. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung in Deutschland liegt mit rund 20 Prozent im europäischen Vergleich deutlich höher als etwa in Frankreich oder Italien – und das war immer unsere Stärke. Deshalb ist diese Entwicklung so alarmierend. Die Unternehmen beklagen hohe Arbeitskosten, Energiepreise, Steuern und eine erdrückende Bürokratie. Das müssen wir grundlegend ändern, um wieder wettbewerbsfähig werden.
Das klingt düster…
REICHE: Überhaupt nicht. Das ist die Lage. Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, auch wenn man damit schnell aneckt. Wir müssen den Realitäten ins Auge blicken. Mit unserer überbordenden Bürokratie, den hohen Steuern, Sozialabgaben und Energiepreisen wird den Unternehmen künstlich Kapital entzogen, das sie viel besser für Zukunftsinvestitionen einsetzen könnten. Diese Belastungen müssen deshalb gesenkt werden. Und wir müssen technologische Entwicklungen wieder als Chancen begreifen. Die Künstliche Intelligenz wird alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche verändern.
Da könnte es Widerstände geben.
REICHE: Mit Künstlicher Intelligenz und konsequenter Nutzung von Daten kann unsere Industrie produktiver, innovativer und resilienter werden als in weiten Teilen der Welt. Wir verfügen über riesige Mengen von Industriedaten, sie sind eine wertvolle Ressource. Wir müssen es schaffen, spezielle KI-Modelle für die Industrie zu trainieren und vor allem auch einzusetzen, sonst verliert Deutschland den Anschluss. Neue Entwicklungen, die sich aus dem Zusammenwirken von Pharmaindustrie, Biotechnologie und KI ergeben, sind eine große Chance für den Standort. Ich wage die These, dass es ohne das Coronavirus in Europa noch keine Zulassung für die mRNA-Impfstoffe geben würde. Wir brauchen insgesamt mehr Tempo, Europa darf nicht schon alles überregulieren, bevor überhaupt ein nennenswerter Markt entstanden ist. Die USA verfolgen hingegen einen Ansatz, der stark auf die Beschleunigung von Innovationen fokussiert ist. KI ist eine bestimmende Technologie der Zukunft, an dieser Entwicklung müssen wir unbedingt teilhaben.
Die Gestaltung der Energiewende wird Ihr Hauptgeschäft in den nächsten Jahren sein. Bei der Beschreibung des Ist-Zustands sind sich viele einig: Zu teuer und zu bürokratisch. Wie kann man diese Energiewende aufsetzen, damit sie noch ein Erfolg wird?
REICHE: Das Energiesystem in Deutschland wurde nicht bedarfsgerecht, sondern anhand politischer Ziele geplant. Wir brauchen realistische Szenarien, um eine Überdimensionierung zu vermeiden und damit kosteneffizienter voranzukommen. Die Energiepolitik konzentrierte sich auf den Wandel der Stromerzeugung, ohne dabei das Gesamtenergiesystem mitzudenken. Das gilt nicht nur für die Ampel, sondern auch für die Regierungen davor. Die Maxime war: Abschalten von Kernenergie und Kohlekraftwerken, hin zu planwirtschaftlichem Ausbau der erneuerbaren Energien. Die steigenden Systemkosten wurden ignoriert. Heute produzieren wir rund 60 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien.
Das ist doch kein schlechter Wert?
REICHE: Wir brauchen die Erneuerbaren und werden sie weiter ausbauen. Zwischen 2000 und 2024 haben wir allein für die Förderung erneuerbarer Energie rund 240 Milliarden Euro ausgegeben. Die Energiewende alter Prägung kommt jedoch an ihre Grenzen. Der Ausbau von Wind und Photovoltaik muss dringend mit dem Netzausbau synchronisiert werden. Der Netzausbau konnte mit dem politisch vorgegebenen Ausbau der Erneuerbaren nicht Schritt halten, eine Überdimensionierung des Stromnetzes ist ebenfalls nicht sinnvoll. Die Folge dieser Entwicklung bringt Probleme mit sich. Erstens fällt viel Strom dort an, wo er im Moment der Erzeugung nicht verbraucht wird. Weil er auch nicht abtransportiert werden kann, müssen Anlagen abgeregelt und an anderer Stelle Kraftwerke hochgefahren werden. Dafür haben die Stromkunden seit 2019 rund 14 Milliarden Euro bezahlt. Gleichzeitig galt zu lange die Regelung, dass Strom aus Erneuerbaren immer vergütet wurde – egal, ob der produzierte Strom genutzt wurde oder nicht. Darüber hinaus konnten Betreiber Anlagen errichten, wo sie wollten, ohne auf das Stromnetz Rücksicht zu nehmen. Ob der Standort netz- und systemdienlich war, spielte bisher keine Rolle. All das macht unser Stromsystem unnötig teurer. Das will ich ändern.
Wie?
REICHE: Die Betreiber einer Solaranlage oder eines Windparks müssen mehr Systemverantwortung übernehmen. Man kann sie zum Beispiel an den von ihnen verursachten Netzkosten beteiligen.
Bis 2030 sollen neue Gaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von bis zu 20 Gigawatt entstehen. Die Ampel hat sich damit in der letzten Legislaturperiode sehr schwergetan. Ihnen bleiben fünf Jahre. Ist das angesichts der deutschen Planungs- und Genehmigungsprozesse realistisch?
REICHE: Gaskraftwerke sind für unsere Versorgungssicherheit essenziell. Die Zeiten, in denen hinreichend gesicherte Leistung vorausgesetzt werden konnte, sind vorbei. Wir brauchen in Deutschland zur Absicherung des Kohleausstiegs und für die weitere Elektrifizierung dringend einen Zubau von gesicherter Leistung. Mit der Europäischen Kommission verhandeln wir derzeit den Rahmen für die dringend benötigten 20-Gigawatt-Gaskraftwerke. Die Gespräche mit der Kommission verlaufen konstruktiv und ich bin zuversichtlich, dass wir bald zu einer guten Einigung kommen. Ziel ist es, möglichst schon Ende des Jahres die ersten Ausschreibungen zu starten. Diese sollen in einem zweiten Schritt in einen technologieoffenen Kapazitätsmechanismus überführt werden, der Anreize für Investitionen setzt. Auch hier gilt: Wir brauchen einen schlanken, klaren und einfachen Mechanismus. Wenn ein Kapazitätsmarkt erst einmal eingeführt ist, können wir ihn immer noch durch weitere Elemente ergänzen und weiterentwickeln.
Ist es denkbar, dass in Deutschland alte Atomkraftwerke reaktiviert werden, um immer genügend Strom im Netz zu haben?
REICHE: Kein Unternehmen würde das finanzielle Risiko dafür tragen. Wir sollten allerdings bei der Erforschung und Standardsetzung für Fusionsenergie und SMRs mitarbeiten.
Small Modul Reactors, neue Reaktorkonzepte, an denen weltweit geforscht wird.
REICHE: Andere Länder haben da ein Jahrzehnt Vorlauf. Wir sollten zumindest verstehen, wohin die Entwicklung geht. Innerhalb Europas jedenfalls sollten wir jenen Mitgliedsstaaten keine Hürden in den Weg legen, die sich dafür entscheiden.
Wir haben jetzt über die Industrie gesprochen. Was ist mit der Planungssicherheit für Privatleute, die beispielsweise auf eine Solaranlage gesetzt haben und sich über eine feste Vergütung freuen. Können die weiter sorgenfrei Ihre Anlage betreiben?
REICHE: Die Hauseigentümer haben für ihre Anlagen Bestandsschutz. Mittlerweile sind jedoch die Preise für Anlagen und Speicher deutlich gesunken. Neue, kleine PV-Anlagen rechnen sich schon heute im Markt und bedürften keiner Förderung. Generell gilt: Die Entwicklung der Erneuerbaren muss marktwirtschaftlich erfolgen und dort, wo die geringsten Systemkosten anfallen. Es richtig und sinnvoll, in Zukunft Anforderungen an die Betreiber von Erneuerbaren Anlagen zu stellen und sie stärker in die Verantwortung zu nehmen.
Ein Beispiel?
REICHE: Wind an Land und Solaranlagen müssen sich in Zukunft stärker an den Kosten des Netzausbaus beteiligen. Bei kleinen PV-Anlagen ist es so, dass die Vielzahl von nicht steuerbaren, kleinen Solaranlagen unkontrolliert einspeist und das Netz unter Stress setzt. Deshalb sollten PV-Anlagen mit Stromspeichern verbunden und steuerbar sein, am Markt teilnehmen und ihren Strom vermarkten.
Ihr Vorgänger Robert Habeck wollte eine grüne Wasserstoffwirtschaft aufbauen, um die Industrie klimafreundlich zu machen. Dafür sind Milliarden an Fördergeldern geflossen. Doch die Unternehmen glauben derzeit nicht an die Technologie. Wo sehen Sie den grünen Wasserstoff?
REICHE: Wasserstoff und seine Derivate in Form von Ammoniak, Methanol oder Ethanol werden zukünftig zum Einsatz kommen und eine zentrale Rolle bei der Dekarbonisierung spielen. Große Mengen an Wasserstoff werden wir auf absehbare Zeit nur dann sehen, wenn wir etwa blauen Wasserstoff nutzen, der aus Erdgas unter Einsatz der Abscheidung von CO2 erzeugt wird. Dann werden wir bis zur Mitte der 30er Jahre ausreichende Mengen zu angemessenen Preisen zur Verfügung haben. Grüner Wasserstoff wird in größerem Umfang erst dann zur Anwendung kommen, wenn er zu wettbewerbsfähigen Preisen erzeugt werden kann.
Ziel Ihrer Arbeit ist es, dass die deutsche Wirtschaft wieder wächst. Wenn man ein Prozent Wirtschaftswachstum annimmt, bringt das laut gängiger Faustregel zehn Milliarden Steuermehreinnahmen. Davon geht die Hälfte an die Länder. Der Haushalt lässt sich damit nicht konsolidieren. Man muss also sparen. Eine andere Möglichkeit wäre es, das Tafelsilber zu veräußern. Wie stehen Sie zum Verkauf von Staatsbeteiligungen, Uniper oder die Commerzbank beispielsweise?
REICHE: Es geht nicht darum, einen schrumpfenden Kuchen möglichst immer besser zu verteilen. Es geht darum, den Kuchen größer zu machen. Ein halbes Prozent Wachstum reicht nicht aus, auch ein Prozent ist zu wenig. Unser Ziel muss mehr sein. Dazu müssen wir wieder wettbewerbsfähig werden. Deutschland muss Stabilitätsanker in Europa bleiben. Wir haben mit den beiden Sondervermögen einen Paradigmenwechsel beschlossen, der sich nur dann rechtfertigen lässt, wenn wir diese Mittel effektiv und schnell investieren und zugleich mutige Strukturreformen umsetzen. Daraus ergibt sich Wachstum. Was die staatseigenen Energie-Unternehmen Uniper und SEFE betrifft, hat die EU-Kommission Auflagen zur Privatisierung gemacht. Das prüfen wir derzeit.
Der Urlaub steht bevor. Welcher Typ sind Sie: Buchungsportal oder Selbstbucherin? Und wo geht’s hin?
REICHE: Zu meinem Privatleben gebe ich grundsätzlich keine Auskunft. Aber vielleicht so viel: Ich nutze gerne beides. Manchmal ist es der Einfachheit halber ein Buchungsportal. Aber es ist auch immer gut, selbst irgendwo anzurufen. Wenn ich im Urlaub auf die Berge gehe, dann reicht auch eine Hütte. Da muss ich nirgendwo anrufen.
Zur Person: Katherina Reiche, Jahrgang 1973, wurde in Luckenwalde geboren und hat drei Kinder. Sie absolvierte ein Chemiestudium in Potsdam und arbeitete dort einige Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin. 1998 zog die CDU-Politikerin in den Bundestag ein und war unter anderem Staatssekretärin zunächst im Umwelt- danach im Verkehrsministerium. 2015 wurde Reiche Hauptgeschäftsführerin des Verbandes kommunaler Unternehmen, danach Vorstandsvorsitzende der Westenergie AG. Seit dem 6. Mai ist sie Bundesministerin für Wirtschaft und Energie.
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Stefan Lange
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