Diese Sandra ist eine Frauenfigur, wie man sie selten auf der großen Leinwand sieht: komplex, eigensinnig, selbstbestimmt, unberechenbar und dabei sehr gewitzt. Die italienisch-französische Schauspielerin Valeria Bruni Tedeschi verkörpert im berührenden Patchwork-Drama „Was uns verbindet“ eine Mittfünfzigerin, die eine feministische Buchhandlung betreibt und es sich in ihrem kinderlosen Leben bestens eingerichtet hat. Zustandsbeschreibung: „Ich bin nicht alleine, ich habe meine Bücher.“

Bis ein Ereignis ihren unabhängigen Alltag umwirft: Während der Entbindung der Nachbarin soll sie auf den älteren Sohn der Mutter aufpassen – Elliot. Doch die Mutter kommt nicht mehr zurück, sie stirbt im Spital. Und Sandra wird eine Bezugsperson für den Buben, den trauernden Partner und das neugeborene Baby.

„Sie strahlt eine ungemeine Ruhe aus, wartet darauf, dass die anderen ihren Platz im Leben finden. Und zugleich bietet sie Freundschaft an – dem Kind, dem Vater, der neuen Frau“, umreißt die Arthouse-Mimin die Figur. Das sei, so Bruni Tedeschi, nicht nur weise, sondern hänge auch damit zusammen, dass sie „Angst vor Bindungen hat, Angst davor, verlassen zu werden“, erzählt sie gut aufgelegt beim Interview mit der Kleinen Zeitung beim Unifrance Festival in Paris.

Mit dieser Angst, so die 60-Jährige, hätte sie gearbeitet; als eine Art Schutzpanzer. Erstmals, erzählt sie, hätte sie vor der Kamera eine Brille getragen. „Die Welt durch die Brille zu sehen, war so, als hätte sie eine Maske auf. Setzt sie sie ab, ist das ein wichtiger Moment. Was passiert emotional mit ihr? Sie enthüllt sich, ist nackt.“

Valeria Bruni Tedeschi in „Die Linie“




Valeria Bruni Tedeschi in „Die Linie“


© Polyfilm

Auf komplexe Frauenfiguren spezialisiert

Als vielfach ausgezeichnete Schauspielerin zählt Bruni Tedeschi zu den Publikumslieblingen im französischen Kino. Das zärtliche Drama „Was uns verbindet“ von Carine Tardieu, das Fragen von Familie, unkonventionellen Patchwork-System, Zusammenhalt und Verbundenheit verhandelt, mutierte in Frankreich zum Kino-Hit.

Und es rückt eine ältere Frau in den Fokus: „Ich denke, dass das Feminismus ist. Eine Frau ist auch dann interessant, wenn sie keine Kinder mehr bekommen kann“, sagt sie. Denn: „Alle Altersgruppen sind interessant und können attraktiv sein“. Hinzu komme, dass die Zahl der Regisseurinnen steige und mehr Schauspielerinnen inszenieren und produzieren. Wie sie selbst.

Bravouröses Spiel: „In besten Händen“




Bravouröses Spiel: „In besten Händen“


© Chaz

Zuletzt überzeugte sie u.a. im Cannes-Film „In den besten Händen“ als streitbare Comiczeichnerin, die im Spital – vor dem Hintergrund der Gelbwesten-Proteste – auf einen wütenden Lkw-Fahrer trifft, im Berlinale-Film „Die Linie“ brilliert sie als egozentrische Familienpatriarchin. Ihre jüngste Regiearbeit „Forever Young“ erhielt eine Einladung in den Wettbewerb von Cannes. In Venedig feiert sie Premiere als italienische Theaterlegende Eleonora Duse. Großer Auftritt: garantiert.