„Man sagt uns, Russland hätte viel für uns getan. Aber ich spüre nur, dass ich nicht genug Geld habe, um so zu leben wie früher. Früher habe ich nicht nur gut, sondern wunderbar gelebt, und jetzt versuche ich, irgendwie über die Runden zu kommen“, sagt Oksana (Name aus Sicherheitsgründen geändert) aus Nowoajdar, mit der die DW sprechen konnte.
Die Siedlung liegt 60 Kilometer von Luhansk entfernt, das seit 2014 besetzt ist. Mit dem Beginn von Russlands Invasion im Frühjahr 2022 rückte die russische Armee auch nach Nowoajdar sowie in die Städte Lyssytschansk, Siwerskodonezk und Rubischne vor und übernahm die Kontrolle über fast die gesamte Region Luhansk im Osten der Ukraine.
Die Bevölkerung Nowoajdars ist seitdem um ein Drittel geschrumpft. „Nur ältere Menschen sind geblieben, die jungen sind in andere Gebiete der Ukraine oder ins Ausland geflohen. Junge Leute sieht man nur noch in Luhansk“, erzählt Oksana.
Sie beklagt, dass ihr Dorf unter dem Krieg leide, auch ihr Haus sei durch Beschuss beschädigt worden. Doch Hilfe seitens der Besatzungsbehörden für einen Wiederaufbau gebe es nicht.
Tauschhandel mit den Nachbarn
Vor Russlands Invasion verkaufte Oksana selbst hergestellte Lebensmittel. Jetzt hat sie kein Vieh mehr und kann auch kein Gemüse mehr verkaufen. Dafür müsste sie ein Unternehmen nach russischem Recht anmelden. „Wir bauen Gemüse nur noch für uns selbst an und treiben Tauschhandel in der Nachbarschaft“, erzählt sie, die sich um ihren betagten Vater kümmert.
Für ein normales Leben braucht man laut Oksana ein Gehalt von mindestens 40.000 Rubel (umgerechnet 440 Euro). Viele Dorfbewohner, beispielsweise Postboten, würden aber nicht einmal 200 Euro verdienen. Stellenangebote gibt es in lokalen Gruppen sozialer Medien, meist im Dienstleistungsbereich und im Bausektor.
Beispielsweise werden im nahen Siwerskodonezk Jobs für „Arbeiter mit Klempner-Kenntnissen“ mit einem Gehalt von 120.000 Rubel (1.320 Euro) angeboten. Auch das Hüttenwerk in Altschewsk zahlt gut. Häufig finden sich in sozialen Medien auch Angebote für Verträge mit der russischen Armee, die einen Sold von 216.000 Rubel (2.376 Euro) bietet.
Wie viele Bewohner der besetzten Gebiete bezieht Oksanas Vater nach wie vor eine ukrainische Rente. Dazu muss er per VPN auf das von den Besatzern blockierte Webportal der ukrainischen Rentenkasse zugreifen. „Ohne diese Rente kann man nicht überleben“, sagt Oksana.
Ihr Vater erhält umgerechnet 61 Euro. „Das reicht, um für eine Woche günstigste Lebensmittel zu kaufen“, fügt die Frau hinzu, die neben der Mindestrente ihres Vaters auch auf Ersparnisse der Familie zurückgreifen muss.
Zerstörte Wohnhäuser in Lyssytschansk (2022)Bild: Luhansk region military administration/AP/picture alliance
Oksana beklagt, dass die Lebensmittelpreise gestiegen sind und dass es in Nowoajdar nur noch zwei Geschäfte gibt. „In Luhansk kann man ein Dutzend Eier um mehr als die Hälfte günstiger kaufen“, sagt sie. Deshalb fährt Oksana alle zwei Wochen zum Einkaufen dorthin.
Auch in Siwerskodonezk und Starobilsk war Oksana. „Aber die Städte sind völlig zerstört. Im Fernsehen heißt es, dort sei fast alles wieder aufgebaut, aber dort sind immer noch ausgebrannte Wohnhäuser ohne Fenster, Türen und Dächer zu sehen“, berichtet die Frau. Die Menschen dort würden immer noch auf neue Fenster und Türen warten.
Immer wieder Stromausfälle
Die ukrainische Regionalverwaltung von Luhansk, die in das von Kyjiw kontrollierte Staatsgebiet verlegt wurde, erfährt von den Problemen der Menschen in den besetzten Gebieten vor allem aus den sozialen Netzwerken.
Dort diskutieren die Menschen über Ausfälle bei der Strom- und Wasserversorgung. „Im Sommer gibt es in Siwerskodonezk regelmäßig weder Strom noch Wasser, und zwar gleichzeitig. Die Wasserversorgung wird angeblich wegen Reparaturen an elektrischen Geräten abgestellt, und der Strom angeblich wegen Arbeiten an Pumpstationen“, erklärt Oleksij Chartschenko, Leiter der Regionalverwaltung von Luhansk im DW-Gespräch.
Ohne Strom funktioniere auch kein Internet, sagt Oksana. Generell sei der Empfang des Mobilfunkanbieters „Lugacom“, der die besetzte Region Luhansk versorgt, von schlechter Qualität, sogar Instant Messenger ließen sich nur schwer öffnen. Zudem seien viele Websites gesperrt. „Sogar Viber kann man nur über VPN öffnen“, sagt die Frau.
Doch Oleksij Chartschenko macht Hoffnung: „Derzeit wird bei Telegram ein Chatbot getestet, der in erster Linie für die Kommunikation mit Bewohnern der besetzten Gebiete entwickelt wurde.“
Dem Leiter der Regionalverwaltung zufolge gibt es in sozialen Netzwerken außerdem viele Klagen über einen Mangel an Ärzten, selbst in den Städten. Einmal im Jahr würde eine Gruppe von Ärzten aus den russischen Städten Krasnodar, St. Petersburg und Moskau nach Nowoajdar kommen, erzählt Oksana.
„Sie betreuen einen Monat lang einen bestimmten Bezirk und danach muss man sich wieder an die Mediziner vor Ort wenden, aber wenn man zur Poliklinik kommt, heißt es, es sei kein Arzt da. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich Geld zu leihen und Privatärzte aufzusuchen“, beschwert sich die Frau. Außerdem würden die Kliniken keine Patienten ohne russischen Pass behandeln, fügt Oksana hinzu.
Angst vor Beschlagnahmung von Wohnraum
Oleksij Chartschenko weist darauf hin, dass seit Anfang dieses Jahres Bewohner der besetzten Gebiete, die keine russische Staatsbürgerschaft angenommen haben, für Russland als Ausländer oder Staatenlose gelten. „Somit werden ihnen alle Sozialleistungen und Vergünstigungen sowie das Recht auf medizinische Versorgung vorenthalten“, sagt er.
Werbung für einen russischen Pass auf einer Plakatwand in Luhansk (2022)Bild: AP Photo/picture alliance
Der Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft geht jedoch auch mit einer Wehrpflicht einher. „Als klar wurde, dass die meisten Menschen versuchen, einen russischen Pass zu meiden, nicht zuletzt, um einer Einberufung zu entgehen, führten die Besatzer immer mehr Beschränkungen ein. Sie schaffen solche Bedingungen, um die Menschen dazu zu zwingen, einen russischen Pass anzunehmen“, erläutert Chartschenko.
Ihm zufolge haben die Besatzungsbehörden beispielsweise im März begonnen, Wohnungen und Häuser von Menschen zu beschlagnahmen, die die Region Luhansk verlassen haben. „Gemäß den russischen Gesetzen wird Wohnraum, der inventarisiert und als ’niemandem gehörend‘ deklariert wird, von Gerichten in kommunales Eigentum überführt“, sagt er.
Damit ihr nicht auch so etwas passiert, musste Oksana aus Nowoajdar russische Papiere für ihr Haus besorgen. Laut Chartschenko sind die neuen Vorschriften ein weiteres Mittel, die Menschen in den besetzten Gebieten, die eine russische Staatsbürgerschaft ablehnen, unter Druck zu setzen. Nur um ihre Immobilien zu retten, würden manche Menschen sogar in die besetzten Gebiete zurückkehren.
Laut einem Erlass des russischen Präsidenten Wladimir Putin müssen alle Menschen, die keine russische Staatsbürgerschaft besitzen, die besetzten Gebiete bis zum 10. September verlassen. Oksana will aber in Nowoajdar bleiben und schauen, was passiert.
„Warum sollte ich bettelnd irgendwohin gehen, wenn ich hier alles habe? Wir warten darauf, dass alles so wird wie früher. Die meisten Menschen hier leben mit dieser Einstellung“, sagt die Frau.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk