1.     Nach dem Wechsel ins westliche Lager: G 7 Staaten zwingen der Ukraine Institutionen der Korruptionsbekämpfung auf

Mit dem Einmarsch des russischen Militärs Ende Februar 2022 ist der Status der Ukraine als unser Alliierter enorm angestiegen. Die mediale Berichterstattung, ungeachtet des Selbstbildes als „kritische Medien“, berücksichtigt das.

Vorher galt Korruption als endemisch in der Ukraine. Die Institutionen einer aussichtsreichen Bekämpfung der grassierenden Korruption, die aktuell auf einmal im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, wurden der Ukraine seit 2015 aufgezwungen. Das geschah Schritt um Schritt, immer im Tausch gegen neue Geldtranchen, koordiniert von den westlichen Staaten (G7), von deren Botschaftern in Kiew. Selbstverständlich waren die Hauptgeldgeber, der IMF und die EU, dabei mit im Boot.

Wir erlebten den Aufbau von neuen Institutionen: im April 2015 das National Anti-Corruption Bureau of Ukraine (NABU) und im Dezember 2015 das Special Anti-Corruption Prosecutor’s Office (SAPO). Die Anklagevorbereitung in Korruptionsverdachtsfällen wurde somit zwischen diesen beiden Einrichtungen gesplittet. Dann bedurfte es noch eines spezialisierten Gerichtshofes. Der High Anti-Corruption Court of Ukraine (HACC) wurde im Juni 2018 geschaffen. Dessen Bedarf hatte sich erst noch dadurch erwiesen, dass Korruptionsfälle, welche das SAPO vor normalen (korrupten) Gerichten zur Anklage gebracht hatte, ausgingen wie das Horneberger Schießen. Auch der HACC aber wurde alsbald lahmgelegt. Die Methode, die die Korruptions-Verteidiger in erprobter Salami-Taktik wählten: Man überbeanspruchte den HACC mit Kleinfällen, sodass die wesentlichen Fälle auf der Wartebank nach hinten verschoben wurden. Es war dann bereits Aufgabe des neuen Präsidenten Selenskyj, diese Art der Blockade durch eine gesetzliche Priorisierung der Inanspruchnahme des HACC aufzulösen.

Der strafrechtliche Teil des Anti-Korruptionskonzepts des Westens bestand in der Abtrennung und Errichtung einer auf Korruption spezialisierten Säule innerhalb der ukrainischen Justiz. Damit aber hatte man eine ungeschützte Achillesferse zugelassen. Die Spezial-Institutionen der Korruptionsbekämpfung qua Strafrecht unterstanden dem ukrainischen Verfassungsgericht, mit seinem offenkundig von der Korruption profitierenden Personal.

Das ukrainische Verfassungsgericht hielt sich lange Jahre bedeckt, ließ die G7-Botschafter ihre Institutionen aufbauen. Erst nach 4 Jahren Bemühen des Westens, mit einem Urteil vom 26. Februar 2019, begab es sich erstmals aus der Deckung: Es schoss den Schlussstein der rechtlichen Umsetzung des Anti-Korruptionskampfes ab. Es erklärte denjenigen Artikel des Strafgesetzbuches, der vorsieht, dass Staatsbeamte, die die Herkunft ihres Vermögens nicht erklären können, mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden können, für verfassungswidrig. Mit diesem Urteil setzte es sich offen an die Spitze des Abwehr-Kampfes gegen die Anti-Korruptions-Strategie des Westens. Der reagierte cool: In einer G7-Erklärung forderte er die Revision dieses Urteils. Dem ukrainischen Präsidenten gelang es, den Gesetzgeber dazu zu bewegen, die inkriminierte Passage im Anti-Korruptions-Gesetzbuch erneut beschließen zu lassen und damit erneut in Geltung zu setzen.

Im August 2020 und am 27. Oktober 2020 folgten die nächsten Paukenschläge: Ausgelöst durch eine Petition von 47 Parlaments-Abgeordneten erklärte das Verfassungsgericht der Ukraine zwei Pfeiler der Anti-Korruptions-Gesetzgebung für verfassungswidrig.

(i) Der Chef der Nationalen Agentur zur Verhinderung von Korruption (NABU), die auch viele Richter ins Visier genommen hatte, sei rechtswidrig im Amt.

(ii) 18 Artikel des Anti-Korruptionsgesetzes sei verfassungswidrig.

Der Westen reagierte wiederum mit einer G7-Erklärung, in der er feststellte, das Urteil sei unakzeptabel. Der Vereinbarung der ukrainischen Regierung mit dem IMF vom Juni 2020 über eine weitere Kredit-Tranche von 5 Mrd. US $ und die Verschiebung fälliger Tilgungen in Höhe von 13,3 Mrd. US $ sei damit die Basis entzogen. Das half.

Präsident Selenskyj reagierte umgehend. Am 30. Oktober 2020 brachte er einen Gesetzentwurf ein, welcher ein Verfahren zum Austausch sämtlicher Richter am Verfassungsgericht vorsah. Dessen Vorsitzender nannte diesen Antrag einen versuchten „Verfassungsputsch“ – was er auch war.

In Konflikt geraten waren die beiden Werte „Unabhängigkeit der Justiz (Rechtsstaat)“, die Verfahrens-Seite des Rechts, und „Schutz gegen Korruption“, die sachliche Seite des Rechts. Der Befreiungsschlag, den Selenskyj dem Parlament zur Lösung vorschlug, unterstellte: Wenn das oberste Gericht korrupt ist, ist unter Wahrung des formalen Grundsatzes, des der Unabhängigkeit der Justiz, das sachliche Anliegen, dem Korruptionssystem das Rückgrat zu brechen, unerreichbar.

Wie dieses Ringen ausgegangen ist, habe ich nicht mehr verfolgen können. Ich beherrsche die ukrainische Sprache nicht. Die Berichterstattung in westlichen Medien zum Thema Korruptionsbekämpfung brach ab. Mein Eindruck war: Präsident Selenskyj ist ein vertrauenswürdiger Korruptionsbekämpfer.

2.     Der Paukenschlag vom 22. Juli 2025

Am 22. Juli 2025 aber wurden mir die Augen geöffnet. Da verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz, welches das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAPO) der Aufsicht des Generalstaatsanwalts unterstellt. Das Gesetz wurde mit 263 Ja-Stimmen zu 13 Nein-Stimmen angenommen, also parteiübergreifend, mit überwältigender Mehrheit. Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnete das Gesetz noch am selben Tag und begründete dies mit der Notwendigkeit, eine russische Unterwanderung zu bekämpfen.

Mit diesem Gesetz wurde die Unabhängigkeit der beiden zentralen Anti-Korruptionseinheiten, die von der G7 über lange Jahre zielgerichtet als unabhängig eingerichtet worden waren, faktisch aufgehoben. Der Generalstaatsanwalt untersteht dem Präsidenten. Die Eile des Vorgangs, am letzten Tag der regulären Parlamentsarbeit vor der Sommerpause, spricht für sich. Die Begründung, die der Präsident angab, war keine, die die Aufhebung der Unabhängigkeit zu rechtfertigen vermochte – sie war also keine. Der äußerst weitreichende Vorgang trägt alle Spuren von Chaos wegen Eilbedürftigkeit. Urplötzlich war die Bekämpfung der grassierenden Korruption in der Ukraine wieder Thema in den hiesigen Medien. Das immerhin. Aber wie?

Anlass für die Nacht- und Nebel-Aktion Selenskyjs war offenkundig, dass das NABU Ermittlungen gegen zwei höchstrangige Politiker aus dem engsten Umfeld Selenskyjs eröffnet hatte. D.i. gegen

  • Olexyj Tschernyshow, mit Selenskyj befreundet und zuletzt, bis Mitte Juli 2025, Leiter des 2024 neu gegründeten Ministeriums für nationale Einheit, das anscheinend nur zu dem Zweck geschaffen worden war, ihn zum Vize-Ministerpräsidenten machen zu können. Tschernyshow war zuvor faktischer Infrastrukturminister. In dieser Funktion soll er im Jahre 2022 Voraussetzungen für die Übergabe eines Grundstücks an ein staatliches Unternehmen geschaffen haben, welches daraufhin Verträge über den Bau von Wohnhäusern gezielt mit bestimmten Firmen abschloss. Das Grundstück und die dort gebauten Wohnungen wurden fast fünfmal niedriger bewertet als dem damals üblichen Marktwert gemäß. Dem ukrainischen Staat entstand ein erheblicher Schaden. Die SAPO bestätigte am 23. Juni 2025 offiziell den Verdacht gegen Tschernyschow wegen Amtsmissbrauch und Bestechlichkeit. Zuvor war das Thema schon lange Gegenstand der Berichterstattung in ukrainischen Medien.
  • Olha Stefanishyna. Sie war bis Mitte Juli 2025 Ministerin für europäische Integration und Justiz und als solche ebenfalls stellvertretende Ministerpräsidentin. Dann wurde sie von Präsident Selenskyj urplötzlich ins Ausland gesandt, sie ist nun Sondergesandte für die Beziehungen mit den USA – was auch immer sie neben dem Botschafter dort ausrichten soll.

Die Verabschiedung des Gesetzes am 22. Juli 2025 ist kein isolierter Vorgang, sie markiert lrdiglich den Höhepunkt einer Kampagne mit einer weit umfassenderen Zielsetzung.

Am 18. Juli durchsuchte das Staatliche Ermittlungsbüro (DBR) die Wohnung von Vitaliy Shabunin, dem Leiter der Anti-Korruptions-Aktions-NGO. Parallel dazu starteten regierungsnahe Medien eine Verleumdungskampagne gegen die Journalistin Inna Vedernikova, die für ihre kritische Haltung gegenüber der Regierung bekannt ist.

Am 21. Juli dann hat der Selenskyj unterstellte Inlandsgeheimdienst SBU 70 Dienststellen der NABU durchsucht und einige Ermittler der Behörde festgenommen. Im Zentrum des SBU-Raids stand Olexandr Skomarow, der Leiter der NABU-Einheit, welche die Ermittlungen gegen Olexyj Tschernyshow führt. Insbesondere Unterlagen dieser Einheit seien beschlagnahmt worden.

Letztere Informationen entstammen einem Bericht des FAZ-Korrespondenten in der Ukraine, Konrad Schuller, vom 29. Juli 2025. Schuller hat einen internen Bericht der EU-Kommission zu den Vorgängen in der Ukraine zugespielt erhalten. In dem EU-Bericht heiße es weiter:

„Das Beweismaterial, das NABU weggenommen worden sei, könne jetzt von Gerichten zurückgewiesen werden, weil die Bedingungen von „Vertraulichkeit und Legalität der Informationsgewinnung“ infolge der Aktion möglicherweise nicht mehr erfüllt seien. In der Analyse heisst es: „Das alles kann faktisch zur Einstellung der Ermittlungen gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten führen.“

Zum größeren Bild gehört zudem die langdauernde widerrechtliche Blockade der Ernennung von Oleksandr Tsyvinskyi zum Leiter des Büros für wirtschaftliche Sicherheit (BEB). Das BEB ist ein zentrales Exekutivorgan, welches für die Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkriminalität zuständig ist. Die Nicht-Besetzung der Leitung des Büros wurde mit Bedenken hinsichtlich des Schutzes sensibler Informationen begründet (Tsyvinskyis Vater lebt in Russland). Diese Vorgehensweise ist ein weiteres Indiz für die Absicht der aktuellen Regierung, die Korruptionsbekämpfungs- und Strafverfolgungsbehörden, die nach dem Konzept der G7 unabhängig aufgebaut wurden und für deren Existenz die Regierung der Ukraine gegen erheblichen Geldmengen Zusagen gemacht hatte, doch wieder unter ihre Kontrolle zu bringen und in politisch relevanten Fällen zahnlos zu machen – und das heisst dann doch wohl: die Korruption nur unten bekämpfen, sie aber als Mittel zu Zwecken, auch politischen, weiter zuzulassen.

3.     Struktur der Anschuldigungen gegen Selenskyj und sein engstes Umfeld

Die im Abschnitt zuvor gegebene Darstellung hat gezeigt, dass der skandalöse Vorgang in der Ukraine nicht allein im Angriff auf die Unabhängigkeit der Institutionen der Korruptionsbekämpfung besteht, sondern vielmehr aus insgesamt vier Elementen.

  1. Dem Vorgang der Abschaffung der Unabhängigkeit qua Unterstellung;
  2. der Subversion des laufenden Ermittlungsverfahrens gegen den mit Selenskyj befreundeten Ex-Vizepremier Olexyj Tschernyshow;
  3. dem massiven Indiz auf Korruption im engsten Umfeld von Selenskyj, mit dessen Deckung;
  4. die Bereitschaft Selenskyjs, Korruption auf hohen Ebenen zuzulassen.

Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass die Medienlandschaft in Deutschland einhellig fast nur das erste Element als Narrativ bedient. Der aktuelle Ermittlungsvorgang oder gar der Schluss auf Selenskyjs Motiv für den massiven Einsatz des Inlandsgeheimdienstes, um seinen „Freund“ zu schützen, sowie für die überfallartige Änderung der Struktur der Anti-Korruptions-Behörden bleiben unthematisiert. Es gilt für die Berichterstattung dann doch wieder die Maxime der Abwägung: Die Ukraine ist unser Alliierter, da müssen sie sich in der Thematisierung schmutziger Wäsche zurückhalten.

4.     Die angebliche “Heilung” durch die revidierte Gesetzgebung vom 30. Juli 2025

Nach dem umgehenden Widerstand, den das Nacht- und Nebel-Gesetz vom 22. Juli von Seiten der Geldgeber erfuhr, hat Selenskyj zu diesem Punkt, und nur dazu, Umkehr gelobt. Eine revidierte Fassung wurde am 30. Juli 2025 als Gesetz Nr. 13533 in das Kiewer Parlament eingebracht und wurde wiederum am selben Tag noch vom Präsidenten unterzeichnet. Der Tenor der medialen Berichterstattung dazu ist: Der Zustand quo ante sei wiederhergestellt. Ob das eine korrekte Beschreibung ist, ist zweifelhaft. Strikte Analysen liegen bislang nicht vor.

Explizit ist der Zustand quo ante auch nicht wiederhergestellt worden, es gab vielmehr lediglich Revisionen am Gesetzestext vom 22. Juli. Das revidierte Gesetz sieht nun lediglich vor, dass der Generalstaatsanwalt einen Fall nicht nach eigenem Ermessen von der NABU an eine andere Behörde übertragen dürfe. Erlaubt ist ihm dies prinzipiell weiterhin, aber nur dann, wenn

„objektive Umstände die zuständige Behörde daran hindern, während des Kriegsrechts zu arbeiten oder Vorverfahren durchzuführen“.

Das Gesetz behält eine umstrittene Maßnahme bei: Staatsanwälte können ohne offene Ausschreibung ernannt bzw. grundlos entlassen werden, einfach aus dem banalen Anlass, dass eine Staatsanwaltschaft umstrukturiert wird – das öffnet der Willkür Tor und Tür. Positiv ist: Das Gesetz ändert auch eine Bestimmung, die es einfacher macht, Durchsuchungen ohne gerichtliche Anordnung durchzuführen. Der am 22. Juli neueingeführte Artikel, der NABU-Beamte zur Teilnahme an obligatorischen Lügendetektortests verpflichtet, wurde beibehalten.

5.     Bewertung

Die Maidan-Revolution 2014 hat die Ukraine mit einem Rucksack voll von Wackersteinen beladen in das Lager des Westens gebracht. Dessen Inhalt: Die weitverbreitete Sitte der Korruption, bis in die höchsten Spitzen. Es war lange Zeit Russland, welches dieses System mit Finanzspritzen von außen durchgetragen bzw. alimentiert hatte. Das geschah nicht selbstlos, das war geopolitisch begründet. Als der Lagerwechsel klar war, hat Russlands Präsident Putin im März 2014 den westlichen Staatschefs in einem Brief gleichsam viel Glück bei der nun ihnen übertragenen Aufgabe gewünscht, für eine Begrenzung der Alimentierung zu sorgen. Er wusste, wovon er sprach.

Den Lagerwechsel fand die EU gut, auch aus Gründen handelspolitischer Profite für private Akteure im EU-Raum; die Korruption und den daraus resultierenden Alimentierungsanspruch zu Lasten öffentlicher Kassen lehnte sie hingegen ab. Sie verfügte auch über eine Strategie, die war von der OSZE im Rahmen des Istanbul Anti-Corruption Action Plan entwickelt worden. Mit der war sie angetreten, die Korruptions-Kultur in der Ukraine überwinden, die ukrainische Bevölkerung von dieser Geißel befreien.

Man darf sich mehr Unterstützung durch die westlichen Medien bei dieser säkularen Aufgabe wünschen. Totschweigen ist keine Strategie – auch wenn es der Freundschaft dienen soll.

 

Bildquelle: Pixabay

 

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