Damals überwog das Mitleid. Als der renommierte Bach-Experte Helmuth Rilling Anfang der 1960er-Jahre in der Stuttgarter Gedächtniskirche mit seiner jungen Gaechinger Cantorey wöchentlich eine Bach-Kantate aufführte, war sich das Publikum weitgehend einig: Der Chor ist wunderbar, das Orchester hat Niveau. Aber die Solisten – die waren bescheiden. Der Grund war einfach: Es fehlte an den nötigen Finanzen, um Honorare für gute Solisten zahlen zu können.

„Damals waren viele der Meinung, wer zur Ehre Gottes singen dürfe, solle dankbar sein und nicht auch noch ein Honorar fordern“, sagt Martin Klumpp, Prälat im Ruhestand, im Gespräch. Kurz darauf fragte ein schwäbischer Unternehmer Rilling, was eine Aufführung von Bachs Johannespassion mit guten Solisten kosten würde. Rilling überschlug kurz und antwortete: 15.000 Mark (rund 7700 Euro). Wenige Tage darauf fand er einen Scheck über genau diese Summe in seinem Briefkasten. Das war der Geburtsimpuls für den Förderkreis der Bachakademie Stuttgart, der schließlich 1965 ins Leben gerufen wurde.

Bach auf höchstem Niveau

„Ziel war es von Anfang an, die Bachakademie finanziell so auszustatten, dass die Musiker Bachs Musik auf höchstem Niveau spielen können“, erklärt Klumpp, der seit Beginn dabei war und seit 40 Jahren zum Vorstand des Fördervereins gehört. Was ihn persönlich an Bachs Musik fasziniert? Klumpp schaut verdutzt, als verstünde er die Frage nicht: „Dass es Bach ist!“ Bachs Musik habe eine Tiefe, wie man sie sonst nur selten erlebe. „Seine Musik bildet Leben ab, und das spüren die Zuhörer“, sagt der Theologe. Nicht umsonst nenne man Bach, der viele seiner Werke mit „Soli Deo Gloria“ (Allein zur Ehre Gottes) unterzeichnete, auch den 5. Evangelisten.

„Bachs Musik tröstet selbst depressive Menschen“, sagt Klumpp. Er wisse von Betroffenen, die jede Kantate besuchten, weil sie Bachs Musik beruhige und tröste, berichtet der Pfarrer, der auch Trauernde begleitet. Bach selbst wusste um die positive Wirkung, die Musik haben kann. „Bey einer andächtig Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart“ hatte er in seiner persönlichen Bibel am Rand der Stelle 2. Chronik 5,13 notiert. Dort wird von der Einsetzung der jüdischen Tempelmusik bei der Einweihung des Jerusalemer Tempels durch König Salomo berichtet.

Bey einer andächtig Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.

Johann Sebastian Bach

„Man spürt bei Bachs Kantaten, dass er selbst tiefes Leid durchlebt hat“, erklärt Klumpp. Von den insgesamt 20 Kindern, die die beiden Ehefrauen Johann Sebastian Bachs zur Welt brachten, hätten 1750, als Bach starb, noch sechs gelebt: „Allein zwischen 1725 und 1731 hat er in Leipzig jedes Jahr eines seiner Kinder auf den Friedhof tragen müssen.“

Bach hatte sein Amt als Thomaskantor in Leipzig 1723 angetreten. Eine Ironie der Geschichte liegt darin, dass der Rat der Stadt Leipzig ihn damals lediglich als Notlösung betrachtete: Da man die Besten nicht bekommen könne, müsse man „Mittlere“ nehmen, so die damalige amtliche Verlautbarung. Mit seinen Kantaten und Motetten, Klaviermusik, Orchester- und Orgelwerken sowie großen Oratorien und Passionen, die er in seiner Leipziger Zeit schuf, hat er der Stadt derweil einen herausragenden Platz in der Musikgeschichte gesichert.

Zwei Bachzentren: Stuttgart und Leipzig

Stuttgart habe sich zu Zeiten der deutschen Teilung als „westdeutsches Pendant“ zu Leipzig etabliert, sagt Martin Klumpp. Man pflege enge und partnerschaftliche Kontakte. Nicht ganz ohne Stolz fügt er hinzu, dass Fachleute Stuttgart und die Gaechinger Cantorey gegenwärtig als Referenz bei der Bach-Interpretation empfehlen, noch vor Leipzig. Tröstlich für alle Leipzig-Fans: Der Leiter der Gaechinger Cantorey und Chef der Internationalen Bachakademie Stuttgart, Hans-Christoph Rademann, ist gebürtiger Sachse.