Wenn Sally Hattab an den schwersten Moment ihrer Flucht denkt, schießen der zierlichen Frau die Tränen in die hellbraunen Augen.
„Das war der Abschied von meiner Familie, der Moment, als ich die Tür meiner Wohnung in Aleppo zugemacht habe und wusste: Ich lasse alles zurück“, sagt die 33-Jährige an ihrem Schreibtisch in der Münchner Anker-Dependance an der Gerty-Spies-Straße.
Von Aleppo nach München: Eine Entscheidung zwischen Leben und Tod
Die Mutter zweier Töchter berät heute als Angestellte der Diakonie München und Oberbayern Geflüchtete, wie sie vor zehn Jahren selbst eine war.
Diese Aufgabe, sagt die studierte Juristin, verbinde ihre persönliche Lebensgeschichte „wie eine Brücke“ mit dem Dank an die Münchner Gesellschaft, die ihr längst zur zweiten Heimat geworden ist.
September 2015: Münchens Moment der Willkommenskultur
Zum zehnten Mal jähren sich im September die Tage, die der bayerischen Landeshauptstadt das Prädikat „Willkommenskultur“ verliehen und sie damit in die internationalen Medien katapultierten. Knapp 67.000 erschöpfte Flüchtlinge, vor allem aus dem kriegsgeschüttelten Syrien, erreichten zwischen 5. und 14. September den Münchner Hauptbahnhof.
Hunderte ehrenamtliche Helferinnen und Helfer organisierten, Hand in Hand mit Polizei und Behörden, ihr Ankommen, verteilten Lebensmittel, Kleidung, Stofftiere, organisierten Dolmetscher, lotsten die Menschen zu den Ankunftszentren. Aus dem Chaos erwuchs eine Solidarität, die Sally Hattab noch heute beeindruckt:
„Es gab so viel Unterstützung und Geduld, die Menschen fühlten sich sehr willkommen“, sagt sie, dezenter Lippenstift, Sonnenbrille in den dunklen langen Haaren, in dem kahlen Containerbüro der städtischen Flüchtlingsunterkunft.
Erste Schritte in Deutschland: Sprachkurse, Praktikum, Wohnungssuche
Sie selbst wagte, gerade mal 23 Jahre alt, die Flucht zusammen mit ihrem Mann zwei Monate später.
„Ich bin nicht freiwillig gegangen, aber wir hatten keine andere Wahl“, sagt sie mit ernstem Blick.
Sie hatte ihr Jurastudium gerade abgeschlossen, ihr Mann – bereits als Anwalt tätig – hätte zum Militär gemusst, um „ein diktatorisches Regime zu unterstützen, gegen unsere eigenen Leute“, erinnert sich Hattab. Für das damals noch kinderlose Paar, das der Krieg nach Aleppo getrieben hatte, undenkbar.
Doch auf Dienstverweigerung standen Haft oder Tod. So folgten Sally und Ayman dem Beispiel zahlreicher Freunde und Bekannte und verließen im November 2025 ihre Heimat Richtung Deutschland.
Beratung auf Augenhöhe: Hattab hilft heute anderen Geflüchteten
Beim Gedanken an das gefährlichste Stück der Reise, der nächtlichen Überfahrt im Schlauchboot vom türkischen Izmir auf die griechische Insel Lesbos, schaudert Hattab noch heute:
„Ich konnte damals nicht schwimmen“, sagt sie, das Boot war voll besetzt, und keiner der Schleuser stieg mit ein.
„Einer der Insassen wurde bestimmt, das Boot zu steuern“, erinnert sie sich. Die Hattabs hatten Glück: Ein Flüchtling aus der syrischen Küstenstadt Latakia, mit dem Meer vertraut, übernahm die Verantwortung.
Integration geglückt: Arbeit, Familie, Staatsbürgerschaft
Von Griechenland aus ging es dann in Bussen von Hilfsorganisationen bis nach München. Dort verbrachte das Paar eine Woche im Ankunftszentrum, danach zwei Monate in der Erstaufnahme, anschließend neun Monate in einer Gemeinschaftsunterkunft. Sallys Albtraum, in der Fremde mit Nichts dazustehen, wich einer zaghaften Zuversicht:
„Ich habe gesehen: Doch, es geht.“ Sie lernten Deutsch, Ayman absolvierte ein Praktikum, der Arbeitgeber half bei der Wohnungssuche – nach einem knappen Jahr hatten sie ihren Aufenthaltsstatus und eine eigene Bleibe. 2017 und 2020 kamen die Kinder zur Welt, Sally nahm eine Stelle in einem Kindergarten an, ließ ihren Abschluss in Jura anerkennen, machte Fortbildungen und arbeitet seit nunmehr drei Jahren in der Flüchtlingsberatung bei der Diakonie.
Ihr Mann ist beim Kreisverwaltungsreferat angestellt, beide haben die deutsche Staatsbürgerschaft, die Töchter sind echte Münchner Kindl.
„So wie wir sind heute viele der Geflüchteten von damals Teil der deutschen Gesellschaft – die Entscheidung war für uns richtig, und für Deutschland auch“, sagt Hattab.
Die Schattenseiten der Asylpolitik: Sorge um Familie und Rückkehrdebatte
Einziger Wermutstropfen: Ihre kleine Schwester und den Bruder hat Sally Hattab seit zehn Jahren nicht umarmt.
„Ich hatte zweimal gebucht und zweimal wieder storniert“, erzählt sie – zu unsicher erschien ihr die Lage in ihrer alten Heimat auch nach dem Sturz des Assad-Regimes.
Dass trotzdem in Deutschland viele die Chance witterten, nun möglichst viele Syrer zurückzuschicken, sei für ihre geflüchteten Landsleute schwer auszuhalten: „Sie arbeiten jetzt hier, ihre Kinder gehen hier zur Schule, und ihre Wohnungen in Syrien sind alle kaputt – wo sollen sie hin?“
Auch den Wandel in der deutschen Migrationspolitik sieht sie mit gemischten Gefühlen: Dass manches strenger gehandhabt werde, sei in Ordnung – wenngleich sie die Aussetzung des Familiennachzugs als „sehr hart“ empfindet, vor allem für die Kinder. Doch was ihr heute fehlt, sind Geduld und Mitmenschlichkeit:
„Geflüchtete brauchen Zeit, jemanden der an sie glaubt und ihnen Chancen gewährt.“
Niemand könne sich unter permanentem Druck in einem neuen Land zurechtfinden, studieren und arbeiten.
Was von der Willkommenskultur geblieben ist
Wenn Sally Hattab an den Herbst 2015 denkt, leuchten ihre Augen auf: „Deutschland war ein Hoffnungsland, viele haben uns geholfen, mit Herz, Geduld und Respekt.“ Niemand verlasse freiwillig seine Heimat, aber Kriege ließen vielen Menschen keine andere Wahl.
„Bei Krieg muss man immer helfen, egal wie“, sagt die junge Frau entschieden.
Negative Seiten von Zuwanderung gebe es, aber viel seltener als die gelungenen Beispiele. „Wo es Beratung gibt und gute Strukturen, machen die Leute mit – und geben es zurück, wenn sie Fuß gefasst haben.“
„Ein Neuanfang ist möglich“ – und lohnt sich
An ihrem Arbeitsplatz, in der Anker-Dependance an der Gerty-Spies-Straße, sind derzeit nur ukrainische Geflüchtete untergebracht. Und obwohl sie deren Sprache nicht spricht, sagt Sally Hattab: „Ich verstehe sie sehr gut – wir haben die gleiche Geschichte.“
Sie kennt die Ängste, die Zukunftssorgen, die Ungewissheit aus eigenem Erleben. Dem allen begegnet die kleine Frau mit einem großen Herzen voll Mut, Hoffnung und der Erfahrung: „Ein Neuanfang ist möglich.“