„Woyzeck“ ist das erste Sozialdrama
Woyzeck ist weder adelig noch bürgerlich, er steht am unteren Ende der Gesellschaft. Büchners „Woyzeck“ ist damit eines der ersten Theaterstücke, die einen sozialen Verlierer in den Mittelpunkt rücken. Es ging ihm sogar darum, zu zeigen, wie dieser einfache Mensch an der Gesellschaft und seinen Lebensumständen scheitert.
Das Drama kann nämlich als Gegenentwurf zu Clarus‘ Gutachten verstanden werden: Büchner gestaltet sein Stück so, dass die Tragödie unausweichlich scheint. Woyzeck ist seinem Schicksal fast schon ausgeliefert, weil er alle Energie auf das Überleben richten muss und seine Situation weder überdenken noch ändern kann.
Immer wieder wird Woyzeck ein problematisches Verhältnis zur Moral nachgesagt, doch er hat kaum die Möglichkeit, einem moralischen Kodex zu folgen. Ein Beispiel: Seine Beziehung gilt als unehrenhaft, weil er mit einer Frau ein Kind hat, mit der er nicht verheiratet ist. Doch Soldaten konnten damals nur gegen Bezahlung heiraten. Da Woyzeck aber kein Geld hat, kann er Marie auch nicht heiraten.
Büchner zeigt das, indem er sehr geschickt mit Motiven spielt und arbeitet. Mal sehr direkt, mal eher indirekt geht es im Text häufiger um die Grenze zwischen Mensch und Tier, ob der Mensch sich über die Natur erheben kann. Letztlich geht es dabei auch um die Frage, ob der Mensch Macht über sein eigenes Leben hat. Das wird auch in den zahlreichen Bibelanspielungen deutlich: Mithilfe der Religion wird Macht ausgeübt, indem eine Moralvorstellung propagiert wird, die unter den gegebenen Lebensumständen kaum erfüllt werden kann. Mit diesen Schuldgefühlen wird dann wiederum Kontrolle ausgeübt.
Radikale Freiheit statt Regeln
Büchner zeichnet im „Woyzeck“ eine Welt nach, wie er sie wahrnimmt und verzichtet dabei auf bisher geltende Regeln, die beim Schreiben von Dramen gelten. Das Leben mit militärischen Regeln war dem Sohn eines Militärarztes bekannt. Wie der ehemalige Leiter des Büchnerhauses in Riedstadt-Goddelau gerne erzählt, lebte Georg Büchner lange Zeit in Sichtweite des Darmstädter Stadtschlosses und beobachtete dort bestimmt regelmäßig den Wachwechsel – vielleicht spielt der Tambourmajor bei ihm deshalb eine so große Rolle.
Wie es später für das Sozialdrama typisch wird, verzichtet Büchner außerdem auf eine Struktur mit Akten und aufeinander aufbauenden Szenen. Es werden vielmehr Schlaglichter auf das Leben von Woyzeck geworfen, in denen es immer um seine ganz akute Situation geht.
Am deutlichsten wird es jedoch in der Sprache: Büchner nutzt Volkslieder und Dialekte – damals eine sehr mutige Entscheidung. Gerade die Vertreter des sogenannten einfachen Volkes lassen bei ihm gerne mal Vokale am Ende der Worte weg, was typisch für das Hessische ist. Allerdings ist sich die Forschung nicht sicher, ob jeder fehlende Vokal von Büchner so gedacht war oder ob sich der Autor nicht einfach beim Schreiben einige Buchstaben gespart hat.
Woyzeck gleicht auf seltsame Weise dem weißen Kaninchen in „Alice im Wunderland“: Ständig hetzt er durch die Welt. Vermutlich rattert in seinem Kopf auch ständig der Gedanke „Keine Zeit, keine Zeit!“. Zwischen seinem eigentlichen Job muss er zahlreichen Nebentätigkeiten nachgehen, also muss er zwischendurch zum Hauptmann, um ihn zu rasieren, zum Doktor wegen der Ernährungsexperimente oder zu Marie, um ihr den Unterhalt für ihr Kind zu bringen.
Doch etwas unterscheidet ihn auch grundlegend von der absurden Figur von Lewis Carroll: Obwohl Woyzeck immer unter Termindruck steht, hat er keine Uhr. An mehreren Stellen im Drama fragt er andere nach der Uhrzeit. Ein geschicktes Bild von Büchner: Denn es zeigt, dass Woyzeck nicht Herr über seine eigene Lebenszeit ist. Auch in diesem Sinne ist „Woyzeck“ ein äußerst modernes Drama, denn es zeigt ein kapitalistisches Verständnis von Zeit: Der Tag vergeht nicht einfach, sondern ist streng aufgeteilt in Stunden und Minuten. Zeit ist Geld und somit eine Ressource, die man sich leisten können muss.
Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus! Ein guter Mensch tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat.
Aus „Woyzeck“ von Georg Büchner
Büchners Manuskript bleibt ein Rätsel
Entgegen späteren Behauptungen geriet der Dichter Georg Büchner nie in Vergessenheit, sondern wurde mit dem Erscheinen seines Historiendramas „Dantons Tod“ breit rezipiert. 1850, also 13 Jahre nach Büchners Tod, veröffentlichte der Bruder des Schriftstellers die erste Werksammlung. Darin fehlte der „Woyzeck“ noch. Für Ludwig Büchner war das Stück inhaltlich und sprachlich viel zu gewagt. Vor allem konnte er die miserable Handschrift kaum entziffern.
Es war Glück und Segen, dass das Manuskript in die Hände des Autors und Publizisten Karl Emil Franzos gefallen ist. Der machte sich zwar die Mühe, das revolutionäre Stück zu entziffern, doch ging er dabei ziemlich eigensinnig vor: Weil die Seiten so ausgeblichen waren, bearbeitete Franzos die Seiten mit destilliertem Wasser und Schwefel-Ammoniak. Das schien ihm geholfen zu haben, allerdings unterliefen ihm mehrere Fehler beim Entziffern. Nicht zuletzt las er „Wozzeck“ statt „Woyzeck“ und so wurde das Stück das erste Mal unter falschem Titel veröffentlicht. Außerdem dichtete Franzos einfach selbst einiges hinzu, wo ihm Szenen nicht schlüssig erschienen, ohne anzugeben, dass nicht alles von Büchner sei.
Büchners „Woyzeck“-Manuskripte liegen heute im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Der erste Teil umfasst 21 Szenen, in denen die Geliebte Margarethe Woyzeck heißt und der spätere Täter Louis. Der zweite Teil enthält die neun ersten Szenen und nun heißt der Protagonist Woyzeck und seine Geliebte Louise. Der dritte Teil ist nur ein Blatt mit zwei Szenen. Und schließlich der vierte Teil mit 17 Szenen, die nun die finalen Figurennamen und vielleicht auch die finale Reihenfolge enthalten. Bis heute geben die Handschriften Rätsel auf, denn es gibt noch unentzifferte Abschnitte.