Ansgar Huddes Stuttgartkarte zeigt, wo Typischdeutschland beginnt, zumindest wahltechnisch: Am Berliner Platz, auf dem Haigst und da, wo es in Gablenberg den Hügel hinaufgeht in Richtung Filderebene. Ab hier wählt die Landeshauptstadt so wie viele andere, oft deutlich kleinere Städte und Gemeinden in Deutschland: Hier hat die Union die Wahl gewonnen, liegt die AfD bei 20, die SPD bei 16, die Grünen um die 12 Prozent.
Im Talkessel dominieren dagegen die Grünen. Hier ist Stuttgart, wie Huddes deutschlandweiter Vergleich zeigt, typisch Großstadt. Im Nordosten der Landeshauptstadt erinnern einige Nachbarschaften dagegen eher an Ostdeutschland. Hier sind die AfD und die Linkspartei besonders erfolgreich.
Die gesammelten Ergebnisse seiner Studie hat der in Köln lehrende Soziologe jüngst in Buchform veröffentlicht: „Wo wir wie wählen“ analysiert die Bundestagswahlen 2021 und 2025 auf der kleinsten vergleichbaren Ebene, dem Wahlbezirk. Wie das Viertel wählt, so tickt es – sagt der Soziologe.
„Typischdeutschland“ und andere Muster
Vier typische Wahlmuster hat Hudde herausgearbeitet – „Typischdeutschland“ und drei andere. Warum? „Wer in einer politisch untypischen Nachbarschaft lebt, kann die allgemeine Stimmung im Land schwerer einschätzen und sieht die eigenen Interessen und die des persönlichen Umfelds möglicherweise weniger in der ‚großen Politik’ repräsentiert“, schreibt Hudde.
Das sind die typische und die drei untypischen Nachbarschaften:
Typischdeutschland – In diesen gemischten Wahlbezirken sind die Parteien im Wesentlichen so stark wie im gesamtdeutschen Ergebnis, alle politischen Lager von links bis rechts sind in etwa so vertreten wie im Bundestag. Das ist besonders häufig in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen der Fall.
Konservativ – Hier ist die Union die stärkste Kraft mit um die 36 Prozent (bundesweiter Wert: 24 Prozent). CDU/CSU dominieren – aber nicht zu sehr. Dieses Muster tritt vor allem in Bayern auf.
AfD trifft Linke – Die Populisten am rechten und linken Rand kommen mit um die 25 respektive 9 Prozent auf deutlich bessere Werte als bundesweit, die politische Mitte ist eher schmal. Dieses Muster gibt es vor allem in Ostdeutschland außerhalb der Großstädte, im Saarland und Teilen des Ruhrgebiets.
Grün-Links – In diesen Nachbarschaften sind die Grünen mit um die 34 Prozent etwa doppelt so stark wie bundesweit, auch die Linke ist mit gut 11 Prozent stärker. Dieses Muster sieht man vor allem in den Zentren der Groß- und Universitätsstädte.
Wie Stuttgart wo wählt
Bei der Bundestagswahl haben die Wahlberechtigten in Stuttgart im Wesentlichen nach den Mustern Typischdeutschland (Außenbezirke und Teile der Innenstadt, 199 Wahlbezirke) sowie Grün-Links (Innenstadt, 58) abgestimmt. Dazu kommen acht AfD-trifft-Linke-Nachbarschaften – alle bezogen auf die Urnenwahlergebnisse vom Februar. Bei der Briefwahl verschieben sich die Zahlen leicht in Richtung grün-links.
Rund um den Ostendplatz kommen die drei Wahlmuster zusammen. Südwestlich davon, Richtung Stuttgart-Mitte, finden sich fast ausschließlich Wahlbezirke mit dem grün-linken Wahlmuster. Richtung Schlossgarten und Neckar wird „typischdeutsch“ gewählt. Und mittendrin, entlang der Landhausstraße Richtung Leo-Vetter-Bad, findet sich ein „AfD trifft Linke“-Wahlbezirk.
Die Nachbarschaften unterscheiden sich nicht nur im Wahlverhalten. Das Statistische Amt der Stadt hat auf Anfrage errechnet, wie hoch in den einzelnen Wahlbezirken der Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund sowie der Immobilieneigentümer ist, außerdem die Zahl der Pkw je 1000 Einwohner und das Durchschnittsalter. Diese Zahlen lassen keine Rückschlüsse darauf zu, ob zum Beispiel junge Menschen tatsächlich überwiegend grün gewählt haben – aber sie unterstreichen, wie unterschiedlich die Nachbarschaften sind.
In den „typischdeutsch“ wählenden Bezirken leben die meisten Autofahrer und Immobilieneigentümer; in den AfD-Vierteln leben deutlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund und die grünen Wahlbezirke sind im Schnitt die jüngsten, außerdem gibt es dort die wenigsten Autofahrer.
Analysen der Städte Köln und Düsseldorf ergaben ganz ähnliche Verteilungen, wobei hohe AfD- und Linkspartei-Stimmenanteile vor allem in sozial benachteiligten Quartieren wie Köln-Chorweiler beobachtet wurden. Der vorhin erwähnte „AfD trifft Linke“-Wahlbezirk am Ostendplatz hat mit 61 Prozent tatsächlich einen vergleichsweise hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, und hier wohnen nur knapp sieben Prozent der Einwohner im Eigentum.
Typisch Großstadt: wenig „Typischdeutschland“
Generell gilt: je größer die Stadt, desto weniger „typischdeutsch“ abstimmende Wahlbezirke finden sich dort. Auf dem Land wird dagegen oft ziemlich ähnlich wie im Bundestrend gewählt. Diese Verteilung zeigt sich auch in Baden-Württemberg. Links-grün wählende Viertel finden sich fast durchweg im Herzen größerer Städte, konservative Wahlmuster sieht man besonders in den Außenbezirken.
Spricht daraus eine seit Jahren beklagte politische Polarisierung? Tatsächlich untersuchen Politikwissenschaftler seit Jahren die Auflösung traditioneller Stammwählerschaften einzelner Parteien. An ihre Stelle tritt zunehmend das Prinzip „Wählen nach Wohnort“: Wahlbezirke, in denen wenige politische Richtungen dominieren.
„Eine Art Selbstselektion“
Das Heusteigviertel (Grün-links) hat mit den am Neckar gelegenen „AfD-trifft-Linke“-Nachbarschaften Freibergs und Mühlhausens sowie der ostdeutschen Peripherie wenig gemein – doch zu „Typischdeutschland“ zählen sie alle nicht. Noch sind gemischte Nachbarschaften, in denen gemischt gewählt wird, die Mehrheit. Doch ihre Zahl geht zurück. Das sei ein Problem, findet Ansgar Hudde, weil dann irgendwann „die Mehrheit der Bevölkerung in Nachbarschaften lebt, wo ein politisches Spektrum klar dominiert“.
Beispiel Innenstädte: „Deren Einwohnerschaft ist oft akademisch geprägt, und bei diesen Milieus gibt es eine Art Selbstselektion Richtung grün-linke Nachbarschaften“, sagt Hudde: „Wer die Nähe zu Kultur und Gastronomie sucht, wer mit ÖPNV und Fahrrad unterwegs ist, der lebt eher innenstadtnah.“ Außerdem verdienen die Innenstadtbewohner meist recht gut.
Noch nie habe er so viele Gleichgesinnte um sich herum gehabt wie zu der Zeit, in der er in der Münchner oder Kölner Innenstadt gelebt habe, so Hudde: „Diversität zählt zum Selbstverständnis der Menschen in den Innenstädten. Tatsächlich divers sind oft aber eher die Außenbezirke.“ Dort lebe man meist weniger in einer abgegrenzten Blase. In kleineren Städten ist die Durchmischung häufig ebenfalls größer – alles Teil von „Typischdeutschland“.
Warum „Typischdeutschland“ wichtig ist
Noch machen die „typischen“ Nachbarschaften den Großteil Deutschlands aus. Soziologen wie Hudde oder Steffen Mau schlussfolgern daraus: Weite Teile des Landes sind nicht so polarisiert, wie es angesichts der aktuellen politischen Diskussionen den Anschein hat. Für Stuttgarts Außenbezirke gelte das eher als für die City, die anders wählt als „Typischdeutschland“. Auch in Ostdeutschland ist „typisch“ die Ausnahme, stattdessen reüssieren dort AfD und Linke.
Je homogener ein Viertel, desto enger wird das Weltbild der Bewohner. Das, so Hudde, könne eigentlich keiner wollen. Weder in den Innenstädten noch draußen in den Vororten oder auf dem Land.