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Protest in London im Juli: „Kinder bombardieren ist keine Selbstverteidigung“. © JUSTIN TALLIS
In Großbritannien tobt eine emotionale Debatte um den Umgang mit Israel und dessen Umgang mit den Menschen in Gaza.
Die Stadt liegt im Sommerfrieden, zwischen Parlament und Buckingham-Palast sind vor allem Touris unterwegs. An diesem Wochenende aber werden Tausende durchs Londoner Zentrum ziehen und die Labour-Regierung unter Premier Keir Starmer verdammen. Es geht, wieder einmal, um die richtige Politik gegenüber Israel und dem Krieg im Gazastreifen.
Der Regierungschef selbst gönnt sich nicht einmal während der Parlaments- und Schulferien eine Pause. Zu Wochenbeginn freute sich Starmer mit jungen Musiker:innen über eine neue Regierungssubvention, die den Musikunterricht in britischen Staatsschulen unterstützen soll – der 62-Jährige war selbst als Schüler Querflötist. Am Dienstagabend präsidierte er bei einer Sitzung des Parteivorstands. Und wie stets in den vergangenen Monaten stand auch diesmal das Thema Gaza auf der Tagesordnung.
Großbritanniens Einstellung zu Gaza: Ein schwieriger Spagat der Regierung
Seit dem Hamas-Massenmord 2023 und der seither andauernden Bombardierung des Gazastreifens führen die Sozialdemokrat:innen auf der Insel dazu einen Eiertanz auf. In den Tagen nach dem Massaker an 1200 Menschen und der Geiselnahme von weiteren mehr als 250 ließ sich der damalige Oppositionsführer Starmer bei der Verurteilung der Mörder und Folterer von niemandem übertreffen; in einem Interview schien der einstige Menschenrechtsanwalt gar die Blockade der Wasser- und Stromversorgung des Territoriums gutzuheißen. Erst nach innerparteilichen Protesten ruderte Starmers Sprecher zurück. Bald trat das Grauen des Hamas-Terrors in den Hintergrund, in den Mittelpunkt der Diskussion geriet die Bombardierung Gazas mit Zehntausenden Toten.
Seit Labour vor 13 Monaten die Macht übernahm, hat sich an dem schwierigen Spagat wenig geändert. Mit Verbündeten wie Frankreich und Kanada argumentieren Starmer und sein Außenminister David Lammy für einen Waffenstillstand. Gegen zwei radikale israelische Kabinettsmitglieder verhängte die Insel kürzlich Sanktionen. Vergangene Woche kündigte der Premier unter Bedingungen die Anerkennung Palästinas als Staat für den Herbst an.
Verbotene Protest-Gruppierung sorgt für Wirbel in Großbritannien
Dagegen wollen am Sonntag Unterstützer:innen des israelischen Vorgehens in London demonstrieren: Sie halten Starmers Plan für falsch und verfrüht. Die deutlich größere Demonstration aber dürfte aus jenen Britinnen und Briten bestehen, denen die Verdammung des Kriegs im Gaza-Streifen seit langem nicht weit genug geht. Zudem hat sich die Regierung durch das Verbot der Gruppe „Palestine Action“ in eine schwierige Lage manövriert.
Die Gruppierung redet direkten Protesten gegen Unternehmen das Wort, die zum Waffenexport nach Israel beitragen. Im Juni landete sie ihren bisher größten Coup: Eine Gruppe drang auf den Luftwaffenstützpunkt von Brize Norton vor und beschädigte zwei RAF-Tankflugzeuge. Diese seien an Aufklärungsflügen beteiligt, die den israelischen Streitkräften Daten liefern würden, hieß es. Der Sachschaden wird auf mehr als acht Millionen Euro geschätzt.
Empört über die „schändliche Attacke“ leitete die Regierung umgehend ein Verbotsverfahren ein. Im Juli stimmten beide Parlamentskammern der Einstufung von Palestine Action als „Terrorgruppe“ zu – gegen die Bedenken von Menschenrechtler:innen. Inzwischen hat der High Court eine Überprüfung der Entscheidung in Aussicht gestellt.
Übereifrige Polizei bei Protest in Leeds; Helfer spricht von Genozid in Gaza
Unterdessen führten übereifrige Polizist:innen die Situation ad absurdum. Im nordenglischen Leeds sistierten sie auf einer Demo im Juli den pensionierten Schuldirektor Jon Farley für ein Plakat, das Worte aus einem Satiremagazin enthielt. Die bitterböse „Erklärung zu Palestine Action“ unterschied eine „unakzeptable Aktion“ – das Besprühen von Militärfliegern – von einer „akzeptablen Aktion“: dem Schießen auf Palästinenser:innen. Er habe den Ordnungshütern die Pointe zu erklären versucht, berichtete Farley nach seinem Aufenthalt in der Zelle, aber: „Nuancen sind nicht so ihr Ding.“
Die Feststellung gilt gewiss auch für Aktivist:innen beider Seiten. Nicht zuletzt überschätzen sie die Einflussmöglichkeit der Ex-Kolonialmacht auf das Geschehen im Nahen Osten. Dagegen wirken Erfahrungsberichte wie der des Oxforder Chirurgieprofessors Nick Maynard ernüchternd. Nach seinem jüngsten Aufenthalt in Gaza beschrieb er den Hunger der von ihm Behandelten – darunter das elfjährige Bombenopfer Habiba, deren „schreckliche Wunden“ Maynard eine Nacht lang zusammenflickte. „Wir hatten nicht genug Nahrung für sie, zwei Wochen später starb sie.“ Auf der Basis des von ihm Miterlebten spricht der Chirurg von einem Genozid. (Sebastian Borger)