Am 7. April 1965 kam das bundesdeutsche Parlament zu einer regulären Sitzung in West-Berlin zusammen. Das missfiel den Sowjets und ihren SED-Statthaltern in Ost-Berlin: Sie inszenierten lautstarke und lebensgefährliche Provokationen.
Der Lärm war buchstäblich ohrenbetäubend. „Wir dachten, die Maschine rasiert unser Dach ab!“, empörte sich ein West-Berliner, nachdem ein sowjetischer Düsenjäger in kaum hundert Metern Höhe über sein Haus gedonnert war. Am ganzen 7. April 1965 rasten immer wieder Jets im Tiefflug mit hohem Tempo über die drei eingemauerten und dennoch freien Sektoren der vormaligen deutschen Hauptstadt.
Vielfach gingen Fensterscheiben zu Bruch, Wände zitterten, Mauern rissen, Putz fiel von Decken und Hausfassaden. Im Bezirk Berlin-Schöneberg brach eine Frau mit nervösen Störungen zusammen. Dutzende ältere Menschen erlitten Herzanfälle oder Kreislaufschwächen. Der Grund? Stets derselbe: Überschall-Knalle alle paar Minuten.
Ohne Rücksicht auf die Folgen am Boden jagten Ostblock-Jets im Sturzflug gen Erde, bevor die Piloten ihre Maschinen im letzten Moment wieder hochrissen und in den Wolken verschwinden ließen. Da bei knapp zehn Grad Temperatur an diesem kühlen Mittwoch die Schallgeschwindigkeit in 100 bis 300 Meter Höhe bei ziemlich genau 1200 Kilometern pro Stunde lag, mussten die modernen Jäger der Muster MiG-21 und Suchoi Su-9 sowie die Jagdbomber Su-7 ziemlich viel „Stoff“ geben, um die Schallmauer zu durchbrechen.
Besonders häufig ließen sie es über der Kongresshalle im Tiergarten knallen. Denn dort begann am 7. April um 15 Uhr die 178. Sitzung des Bundestages. Aus irgendeinem Grund hatten der Kreml und die SED-Führung, Moskau Statthalter in Ostdeutschland, beschlossen, gerade diese Sitzung als Verstoß zu werten.
Das war gleich in mehrfacher Hinsicht absurd, denn alle führenden Institutionen der DDR amtierten in Berlin-Mitte: Die „Volkskammer“, das Scheinparlament der DDR, tagte seit 1950 in einem früheren Hörsaalgebäude an der Luisenstraße. Die politisch bedeutungslose Regierung, der „Ministerrat“, werkelte im Alten Stadthaus hinter dem Roten Rathaus vor sich hin. Die eigentlichen Machthaber, SED-Chef Walter Ulbricht und sein Sekretär für Sicherheits- sowie Kaderfragen Erich Honecker, hatten ihre Büros seit 1959 in der vormaligen Reichsbank am Werderschen Markt, nun Zentralkomitee der SED genannt.
Angesichts dieser Praxis der DDR-Führung war es unsinnig, in (gelegentlichen) Tagungen des an sich in Bonn beheimateten Bundestages in West-Berlin einen Verstoß gegen alliierte Vorbehaltsrechte hinsichtlich der Vier-Sektoren-Stadt Berlin zu sehen. Als der Bundestag 1955 zum ersten Mal in West-Berlin getagt hatte, schickte die „Volkskammer“ noch ein freundliches Telegramm. „Was hat sich inzwischen geändert?“, fragte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) zu Beginn der Sitzung und antwortete gleich selbst: „Die Rechtslage in keiner Weise. Aber an die Stelle des werbenden Wortes sind inzwischen recht hemmungslose Beschimpfungen und Bedrohungen getreten. Sie sind würdelos und haben noch nicht einmal den Schein des Rechtes für sich.“
Im Hinblick auf die angesetzte Sitzung hatte die DDR den Transitverkehr von der Bundesrepublik nach West-Berlin schon Tage zuvor massiv behindert und teilweise ganz gesperrt – angeblich wegen notwendiger Bauarbeiten an Brücken. Mit ganz ähnlichen „Begründungen“ hatte im Juni 1948 die elfmonatige Blockade West-Berlins begonnen, die der Westen mit der legendären Luftbrücke gewaltlos brach.
Doch diesmal beließen es die Sowjets nicht bei Sperren zu Lande (um Kanäle ging es 1965 anders als 1948 nicht). Sondern diesmal störten weitere Jets auch den von Amerikanern, Briten und Franzosen, also Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, betriebenen zivilen Flugverkehr nach West-Berlin. Im Luftkorridor vor Berlin wurden Verkehrsmaschinen der britischen Gesellschaft BEA und der PanAm von Düsenjägern mit Störmanövern behindert. Außerdem unterflog ein Düsenjäger der Sowjets eine britische „Viscount“ vor der Landung in Tempelhof in gefährlicher Nähe.
Den Kurs der US-Militärmaschine, mit der Bundeskanzler Ludwig Erhard nach Berlin flog, kreuzten sogar gleich zwei Ostblock-Jets. Das hätte zu einer Kollision führen können oder das amerikanische Flugzeug durch Turbulenzen in höchste Bedrängnis bringen können.
Die westlichen Alliierten erklärten zu den sowjetischen Manövern (möglicherweise waren sogar Jets der DDR-Luftwaffe beteiligt): „Diese Flüge sind rücksichtslos und unverantwortlich. Sie können schwerste Unfälle verursachen und stellen eine große Gefahr für den normalen Luftverkehr in den Luftkorridoren dar. Die Sowjet-Regierung ist für die Sicherheit der alliierten Flugzeuge in den Korridoren verantwortlich.“
Zweifellos brach die Sowjetunion am 7. April 1965 wissentlich und zum wiederholten Maße die Vier-Mächte-Übereinkunft, laut der über dem gesamten Berliner Stadtgebiet Flüge von Militärmaschinen nur nach vorheriger Anmeldung in der Luftsicherheitszentrale der vier Siegermächte (übrigens der letzten Institution, in der die vier Mächte überhaupt noch zusammenarbeiteten) unternommen werden durften. Auch die Proteste der westlichen Stadtkommandanten gegen die Flugmanöver ignorierten die Sowjets.
Letztlich setzte sich die sowjetische Aggression durch: Die Westmächte und die Bundesregierung verzichteten darauf, für den relativ geringen Gewinn lediglich symbolisch wichtiger Bundestagssitzungen in West-Berlin weitere sowjetische Übergriffe zu riskieren. Die 178. Plenarsitzung des vierten Bundestages am 7. April 1965 blieb die letzte in Berlin bis zum 4. Oktober 1990, als der elfte Bundestag zur ersten Sitzung in der alten und neuen Hauptstadt des vereinten Deutschland zusammenkam (über deren künftige Funktion auch als Sitz der Regierung noch nicht entschieden war).
WELTGeschichte-Redakteur Sven Felix Kellerhoff wuchs seit 1974 in West-Berlin auf. Kleinere Schikanen bei Kontrollen durch DDR-Grenzer hat er bis November 1989 immer wieder erlebt – allerdings niemals solche massiven Provokationen wie 1965.