Als 2015 im Hamburger Nobelviertel Harvestehude eine Flüchtlingsunterkunft eröffnet werden sollte, gab es Klagen von Anwohnern und schlimmste Prophezeiungen. Schließlich zogen 190 Menschen ein. Jetzt wurde die Einrichtung geschlossen. Eine Bilanz.

Ein Sonntag Mitte Juni. Vor der Flüchtlingsunterkunft stehen vier Mädchen und zwei Jungen, alle um die zwölf Jahre alt, alle aus Afghanistan. Sie fotografieren sich mit ihren Handys, rempeln sich spaßhaft an. Und beobachten feixend, wie zwei Männer unter Schnauben und Fluchen einen Schrank nach draußen bugsieren. Nachdem die beiden es geschafft haben, hieven sie das Möbelstück in einen Kleintransporter.

„Hier ziehen jetzt jeden Tag Leute aus“, erklärt eines der Mädchen in akzentfreiem Deutsch, „das Erdgeschoss ist schon leer“. Nächste Woche, erzählt sie, komme ihre Familie dran, das sei sehr schade. Hier sei alles toll gewesen: die schönen Häuser und das viele Grün ringsum, der kurze Schulweg, der große Spielplatz, die Freundinnen, die netten Betreuerinnen. Ob das in der neuen Einrichtung, in die sie jetzt ziehen müssten, ähnlich sei, sie wisse es nicht. Aber sie habe ein bisschen Angst.

Leise, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, ist in Hamburg ein Kapitel zu Ende gegangen, das vor rund zehn Jahren mit großem Getöse begann: die Errichtung eines Flüchtlingsheims im noblen Stadtviertel Harvestehude, in einer der reichsten Gegenden der Hansestadt.

Zoff in der Nachbarschaft

Die Ansiedlung von Migranten zwischen alten Villen und neuen luxuriösen Stadthäusern, noch dazu in unmittelbarer Nähe der Alster, löste heftige Kontroversen aus. Gegner und Befürworter des Projekts gingen in Zeitungen und im Netz aufeinander los. Das schmucklose Fünfzigerjahre-Haus, ein zu Wohnzwecken umgebautes ehemaliges Kreiswehrersatzamt, geriet bundesweit ebenso in die Schlagzeilen wie die Adresse: Sophienterrasse 1. Letztlich ging es um die Frage: Wie gerecht sollen die Folgen der Flüchtlingskrise auf alle Mitglieder der Gesellschaft verteilt werden?

Ende Juli zogen die letzten Flüchtlinge aus. Noch in diesem Jahr soll das Gebäude, das 2015 für fünf Millionen Euro renoviert wurde, abgerissen werden. Die Migranten wurden auf andere Heime verteilt, mussten teilweise in weit entfernte Randbezirke ziehen.

Mitte Juni herrscht noch Aufbruchstimmung in der Unterkunft, die bald keine mehr sein wird. Koffer stehen herum, in einer Flurecke sitzt eine Puppe. Die Wände sind über und über mit Graffiti bemalt. Im Treppenhaus riecht es nach Essen. Die syrische Familie im ersten Stock, die sich seit drei Jahren eine große Wohnung mit zwei anderen Familien teilt, kann noch drei Wochen bleiben, weiß nicht so recht, ob sie sich über den bevorstehenden Umzug freuen soll.

Die junge Frau, Mutter von zwei minderjährigen Söhnen, bangt um die Fortsetzung ihres Deutschkurses, ihr Mann trauert dem kurzen Weg zum Gemüseladen nach, wo er als Ein-Euro-Jobber stundenweise Tomaten und Bananen verkauft. Doch es gibt auch Positives: In der neuen Unterkunft soll die Familie eine kleine Wohnung nur für sich allein bekommen, mit eigenem Badezimmer und eigener Toilette. Endlich.

Zur Erinnerung: 2014 suchen mehr als 5000 Migranten Zuflucht in Hamburg. Über 43 Prozent der Einheimischen lehnen jedoch eine weitere Aufnahme von Zuwanderern ab, die Stimmung ist gereizt. Bei den bevorstehenden Bürgerschaftswahlen Anfang 2015, bei denen der damalige Regierende Bürgermeister Olaf Scholz die absolute SPD-Mehrheit verteidigen will, spielt das Thema eine große Rolle.

Viele Genossen sind stinksauer, dass ausgerechnet in Außenbezirken wie Wilhelmsburg, Harburg, Wandsbek und Billstedt immer neue Unterkünfte entstehen – überall da, wo die Sozis traditionsgemäß die meisten Stimmen holen. Mit der Platzierung des Heims mitten im Villenviertel soll ein deutlich sichtbares Zeichen für eine gerechtere Verteilung gesetzt werden. Olaf Scholz stimmt dem Plan sofort zu: „Auch wenn‘s Ärger gibt, das machen wir.“ Und es gibt Ärger.

Gegner des Projekts werfen der Stadt vor, sie wolle aus ideologischen Gründen den Charakter des Viertels knacken, ein Exempel statuieren. Warnen vor Drogenhandel, Krawallen und nächtlichen Schlägereien. Anwohner ängstigten sich öffentlich um ihre Sicherheit, Hausbesitzer um die Grundstückspreise. Bei einer Anwohnerversammlung prophezeit der damalige AfD-Politiker Markus Wegner, heute CDU: „Das wird ein Horror-Haus!“.

Eine Ärztin warnt: „Zu viele Arme treffen auf zu viele Reiche.“ Auch die Befürworter sind nicht zimperlich. Von herzlosen „Alstermillionären“ ist die Rede, von „Schönen und Reichen“, die auf ihrer Wohlstandsinsel unter sich bleiben wollen, sich dem Gemeinwohl verweigern. Es geht auch um Gut und Böse. Wer dafür ist, gilt als mitfühlend, wer dagegen, als herzloser Egoist.

So richtig hoch kochen die Emotionen, als ein Verwaltungsgericht der Klage von mehreren Grundstückseigentümern aus der Nachbarschaft stattgibt und einen vorläufigen Baustopp verhängt. Grundlage dazu ist ein Bebauungsplan von 1955, der eine „soziale Einrichtung“ in diesem Wohngebiet nicht vorsieht.

„Möge euch euer Kaviar im Halse stecken bleiben“

„Eine Schande für Hamburg“, kommentiert der Norddeutsche Rundfunk (NDR) das Urteil, die Fronten verhärten sich immer mehr. „Möge euch euer Kaviar im Halse stecken bleiben“, postet der Hamburger Schauspieler Stephan Schad im Forum von Spiegel online in Richtung Kläger, „ihr kotzt mich an“. Schließlich gelingt nach langem juristischem Gezerre im September 2015 ein Kompromiss.

Stadt und Kläger vereinbaren, dass nicht 220 Menschen in das Heim einziehen, sondern nur 190. Und zwar vorwiegend Familien. Außerdem wird festgeschrieben: Die Unterkunft muss nach zehn Jahren schließen, in den nächsten 50 Jahren darf an dieser Stelle keine Sozialeinrichtung mehr installiert werden. Untergebracht werden nur Asylbewerber mit einer Aufenthaltsgenehmigung oder einem absehbaren Anspruch darauf. Im Januar 2016 treffen die ersten Bewohner ein.

„Gegen den Zuzug von Flüchtlingsfamilien hatten wir von Anfang an nichts“, rechtfertigt sich einer der früheren Kläger, der namentlich nicht genannt werden will, „die regulieren sich selbst, die wollen, dass ihre Kinder in die Schule gehen und etwas lernen“. Die ursprünglich zusätzlich geplante Einquartierung von Menschen aus prekären Verhältnissen sei jedoch ein Unding gewesen und mit Recht verhindert worden.

Dies wäre jedoch nie objektiv dargestellt worden, Leute wie er seien öffentlich als Flüchtlingsfeinde gebrandmarkt, als „Nazis in Nadelstreifen“ verunglimpft worden. Das Getöse um das Heim, insbesondere der Presserummel, habe seinerzeit großen Schaden angerichtet. „Mein Haus war mit einem Schlag 20 Prozent weniger wert“, sagt er. Nachbarn sei es ebenso ergangen.

Wie fällt seine Bilanz nach zehn Jahren aus? Durchweg positiv, meint der frühere Kläger. Befürchtungen vor Randale, offenen Drogendeals und Gewalt hätten sich nicht bestätigt. Klar, hin und wieder sei die Polizei angerückt, Ärger um nächtlichen Lärm und herumfliegenden Müll habe es auch schon mal gegeben.

Andererseits: Die Gegend, bewohnt von vielen alten Menschen, sei bunter und lauter geworden. Und, wegen der zahlreichen Kinder, „viel, viel jünger“. Er erinnere sich an eine Silvesterfeier, als er vor seinem Haus mit über 50 Kindern um die Wette geknallt habe, „das war ein Riesenspaß“. Tatsächlich passierte rund um das zunächst so umstrittene Heim Erstaunliches: Die Bewohner avancierten zu den wohl am besten umhegten und betreuten Flüchtlingen Hamburgs. 

Noch vor der Eröffnung gründete die Anwältin Hendrikje Blandow-Schlegel den Verein „Flüchtlingshilfe Harvestehude“, dem sich spontan Nachbarn aus der näheren und weiteren Umgebung anschlossen. Zeitweise kümmerten sich über 250 ehrenamtliche Helfer um die Migranten, darunter Lehrer, Ärzte, Kirchenleute, Journalisten.

Die Helfer reparierten mit den Bewohnern Fahrräder, kochten mit ihnen, paukten mit ihnen die deutsche Sprache, spielten mit ihnen Fußball, organisierten Hausaufgabenhilfe, begleiteten sie bei Behördengängen, richteten eine Teestube als zentralen Treffpunkt ein. Fast schien es, als wollten die Anwohner des Viertels aller Welt beweisen, dass die Erzählung von den kaltherzigen Wohlstandsbürgern nichts als böswillige Nachrede sei.

„Ich habe noch nie so viel Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen erlebt“, berichtet Unterkunftsleiterin Caroline Smolny, die zuletzt die Abwicklung organisierte. Die Frau mit dem energischen Auftreten hat schon in vielen Hamburger Unterkünften, gearbeitet und dabei erlebt, wie feindselig manche Einheimische anderswo auf die Nachbarschaft von Migranten reagieren, sie erinnert sich an Schmähungen, an ausgekippten Müll, an angedrohte Gewalt, an ein Klima der Angst. Nichts davon in Harvestehude.

Die Geflüchteten, vorwiegend Familien aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, hätten so gut wie nie Ärger erregt. Reibereien habe es eher innerhalb des Hauses gegeben, wenn etwa verschiedene religiöse Überzeugungen aufeinandergeprallt seien oder es Zoff um laute Musik gegeben habe. Wenn sie Bekannten über ihre Erfahrungen berichte, stoße sie bisweilen auf Erstaunen: „Manche Menschen können nicht glauben, dass reiche Nachbarn nett sind.“

Vereinsgründerin Blandow-Schlegel hat eine simple Erklärung. In bürgerlichen Stadtteilen lebten oft Menschen ohne allzu große Existenzsorgen, darunter auch viele interessierte, offene und fitte Ältere. Nicht mehr berufstätig, mit viel Zeit. Die hätten natürlich mehr Muße, Möglichkeiten und Bereitschaft zu sozialem Engagement als Leute, die in einen schlecht bezahlten Job selbst um die Existenz kämpfen müssten. Und sie könnten ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Eine Win-win-Situation sozusagen. 

Michael Wiese übernahm vor neun Jahren die Patenschaft für einen jungen Eritreer, der vor dem Militärdienst in seiner Heimat geflohen war. Der pensionierte Berufsschullehrer umsorgte seinen Schützling, einen der wenigen Alleinstehenden im Heim, viele Jahre lang. Nahm ihn zur Familie nach Hause, versuchte, ihm Normalität jenseits des Heimalltags zu vermitteln. Motivierte ihn zum Durchhalten bei Deutschkursen, bremste seine Ungeduld, wenn schnelle Erfolge ausblieben, beriet ihn bei seinem Asylverfahren.

Heute bestreitet der Mann, der schon vor längerer Zeit die Unterkunft verlassen hat, seinen Lebensunterhalt als Lagerarbeiter. Obwohl es manchmal mühsam war, es auch Frust gab, hat der pensionierte Lehrer sein jahrelanges Engagement nie bereut. Rückblickend erklärt er: „Ich habe das Gefühl, meine Fähigkeiten und Kompetenzen sinnvoll eingesetzt zu haben. Das macht mich zufrieden.“

Die Durchsetzung des Projekts in Harvestehude sei erfolgreich verlaufen, resümiert Anwältin Blandow-Schlegel: „Es gab nur ganz wenige Probleme.“ Deshalb sei es höchste Zeit, solche Unterkünfte in allen Vierteln Hamburgs zu realisieren, ohne Rücksicht auf Wohlstandsinseln: „Das ist ein Gebot der Stunde.“

Doch das ist kompliziert. Zwar schwört ein Sprecher der Sozialbehörde, es gebe keinen Stadtteil, „wo wir sagen, da trauen wir uns nicht hin.“ In der Praxis jedoch sind Heime in betuchten Gegenden nach wie vor eine große Ausnahme. „Wo immer etwas geplant ist, wird von Anliegern geklagt“, weiß Unterkunftsleiterin Smolny.

Aktuell leben in Hamburg mehr als 44.000 Geflüchtete in öffentlichen Unterkünften. Nur eine einzige Einrichtung liegt in einem wohlhabenden Quartier. Erst kürzlich scheiterte die Errichtung einer Migranten-Unterkunft im elbnahen Ortsteil Hochkamp an einer Besonderheit: Die Gründer des Villenviertels verfügten vor über 100 Jahren, dass dort nur Einfamilienhäuser mit parkähnlichen Gärten gebaut werden dürfen. Über die Einhaltung dieser sogenannten „Hochkamp-Klausel“ wacht seit 1918 ein eigens dafür gegründeter Verein. 

Flüchtlinge willkommen

Im feinen Klein-Flottbek dagegen konnte sich die Stadt durchsetzen. Derzeit entstehen auf dem Parkplatz vor dem Botanischen Garten, dem „Loki-Schmidt-Garten“, Container-Häuser für 144 Geflüchtete. Zwar sammelten auch dort Gegner des Projekts viele Unterschriften, drohten mit Klagen. Die wurden aber nie erhoben.

Stattdessen propagierten Befürworter den Slogan: „Flottbek ist bunt“, gründeten eine „Bürgerinitiative pro Unterkunft“, klebten Plakate mit der Aufschrift „Refugees Welcome“ an ihre Balkone und kündigten an, den Migranten mit Rat und Tat zu helfen. Könnte Klein-Flottbek ein zweites Harvestehude werden? „Ich würde mich darüber freuen“, sagt die Vereinsvorsitzende Blandow-Schlegel.