Karl-Martin Harms hat kein Büro, kein Wartezimmer, keine Sprechstunden. Er ist da, wenn Menschen warten, ihren Flug verpasst haben, nicht weiterwissen. Seit 2019 ist der evangelische Pastor Flughafenseelsorger am Airport Hannover. Seine wichtigste Aufgabe? „Zuhören“, sagt er. Und das kann am Flughafen alles bedeuten.

Manchmal ist es der junge Mann, der mit seinen Kumpels nach Mallorca fliegen will, aber am liebsten einfach nur zu Hause geblieben wäre. Manchmal der ältere Engländer, der vor Jahrzehnten als Soldat in Niedersachsen stationiert war und beim Warten auf den Flug plötzlich von der Liebe seines Lebens erzählt.

Für den Seelsorger wichtig: herunterkommen, deeskalieren

Reisende merken mitunter erst beim Check-in, dass sie ihren Reisepass oder den ihrer Kinder vergessen haben. Andere haben ihn dabei, doch: Er ist abgelaufen. Und dann sind da jene, die ihren Flieger verpassen, weil sie 2.00 Uhr mit 14.00 Uhr verwechselt haben. „Die kleinen Dramen des Lebens“, sagt Harms. 

Er könne zwar keine Dokumente ausstellen, denn „damit habe ich nichts zu tun“. Aber bei ihm heiße es: herunterkommen und deeskalieren. Der verpasste Flug sei in dem Moment eine Enttäuschung, aber „es geht nicht um Leben und Tod“. Nicht selten rücken sich die Sorgen der Reisenden beim Erzählen zurecht.

Karl-Martin Harms, Pastor und Flughafenseelsorger, steht im Terminal im Flughafen Hannover. Foto: picture alliance/dpa

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Brause-Bonbons gehen immer

Egal, um welches Thema es geht: Der Seelsorger hört sich alles an, ohne Formalitäten, ohne Termin. Das sei in der Seelsorge ein sogenanntes seelsorgliches Kurzgespräch. Ein paar Minuten reichen dafür manchmal schon aus.

Angela Grimm, Direktorin des Zentrums für Seelsorge und Beratung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, ist von den Qualitäten des Pastors überzeugt: „Karl-Martin Harms zeichnen ganz besonders zwei Dinge aus: sein Humor und seine Fähigkeit, zuzuhören. Sein Humor ist fein und eher leise und löst immer wieder herzliches Lachen aus.“

Harms weiß: „Mein Job ist es, schnell zu erkennen, was ist jetzt eigentlich das Anliegen und worum geht es? Das fängt immer mit so ein bisschen Small Talk an. Aber Ahoj-Brause geht immer“, sagt er und reckt einen Eimer voller quadratischer Lutsch- und Kaubonbons in die Höhe.

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„Außer bei den Polizisten, die wollen nie etwas“

Der Seelsorger läuft gerne mit seinem Wägelchen und dem Eimer unter dem Arm durch die Gänge des Flughafens und bietet die sauer-prickelnde Süßigkeit jedem an, der seinen Weg kreuzt. Die Brause dient ihm als Türöffner. „Außer bei den Polizisten, die wollen nie etwas“, sagt Harms. 

Der Pastor spricht in sanftem Ton, die Mundwinkel gutmütig nach oben gezogen. Es ist schwer vorstellbar, dass ihn irgendetwas aus der Ruhe bringen kann. Harms scheint es nie eilig zu haben. Vielleicht ist das sein größtes Geschenk an einen Ort, der von Hektik lebt: die Zeit.

Bei Todesfällen leistet der Pastor Notfallseelsorge

Neben Tränen wegen verpasster Flüge gibt es auch wirklich schwere Fälle, bei denen Harms gerufen wird: Wenn ein Fluggast während einer Reise stirbt und seine Angehörigen am Flughafen vergebens auf ihn warten. Oder wenn eine Flugbegleiterin am Morgen nicht zum Dienst erscheint und schließlich tot in ihrem Hotelzimmer gefunden wird. „Dann wird die Crew gefragt, ob sie jetzt noch arbeiten kann oder nicht“, sagt Harms. 

So etwas geschehe zwar sehr selten, aber für den Flughafen sei es in diesen Notfällen gut, die Seelsorge zu haben. Direktorin Grimm sagt: „Ein kleiner, geschenkter Brausebrocken, die Erinnerung daran, dass auch schon andere schwierige Situationen gemeistert wurden oder auch ein Reisesegen: Diese Dinge können viel bewegen.“

Für Harms war der Flughafen immer mehr als ein Ort der Reisenden. „Ich habe über meine andere Tätigkeit als Springer in den Gemeinden hier im Umkreis des Flughafens viele kennengelernt, die auch hier am Flughafen arbeiten“, erzählt der Pastor. Seine Seelsorge soll Begegnung auf Augenhöhe sein, auch mit jenen, die gerade im Dienst sind. 

Kreuzigungsszene mit Flughafenbeschäftigten 

Besonders in Erinnerung bleibt Harms ein Filmprojekt während des Corona-Lockdowns, für das er eine Kreuzigungsszene mit Flughafenbeschäftigten drehte. „Bundespolizisten in ihrer normalen Arbeitsuniform haben den Jesus-Darsteller festgenommen“, lacht Harms. Für einen Moment war der trostlose Lockdown-Alltag durchbrochen.

Oft ist der Seelsorger auch in der Kapelle des Flughafens. Der kleine Raum im Ankunftsbereich zwischen den Terminals A und B ist rund um die Uhr geöffnet. Reisende und Flughafenmitarbeiter nutzen die Kapelle für einen Moment der Besinnung, doch nicht alle Gäste sind friedlich.

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Eine wohnungslose Frau habe sich mal in der Kapelle einquartiert und niemanden mehr hereinlassen wollen. Tagelang habe sie dort gesessen und mit stoischer Akribie die Bibel in einen Collegeblock abgeschrieben, doch dann die Blätter zusammengeknüllt und vor sich aufgehäuft. „Für mich war es eine Kunstaktion über die Vergeblichkeit des Lebens“, sagt Harms.

Im August endet seine Zeit als Flughafenseelsorger. Der Pastor wird sich neuen Aufgaben widmen. Er wünscht den Menschen am Flughafen vor allem eines: „Gelassenheit.“ Das helfe am Flughafen, aber auch sonst im Leben. 

Der Seelsorger fliegt selbst „total gerne“. Aber nur einmal im Jahr, wenn er seine Tochter auf La Palma besucht. Auch dann weiß er: Nicht der reibungslose Flug macht die Reise besonders, sondern die Begegnungen unterwegs. (dpa)