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Mit 25 Jahren sind Männer in der Ukraine wehrpflichtig. Die Armee braucht dringend mehr Soldaten. Ein Programm für 18- bis 24-Jährige lockt mit Prämien an die Front.

Yuriy wird fuchsig. „Dein Gewehr ist doch keine Puppe. Halte es gerade und lauf“, ermahnt der 42-jährige Ausbildungsfeldwebel mit der coolen Sonnenbrille den ehrfurchtsvoll dreinblickenden, pausbäckigen 19-Jährigen. Dann stürmt der Teenager los. Mit seinem Marschgepäck auf dem Rücken. Der Schweiß perlt auf der Stirn. Er fließt reichlich unter Helm und Schutzweste an diesem heißen Tag, nach dem kräftezehrenden Anstieg auf einen Hügelrücken. Hier, irgendwo nicht weit entfernt von der Front im Donbas.

„Stopp“, flucht Yuriy. „Deine Schulter und dein Gewehr, das muss eine Linie sein“, sagt der Veteran und machte es schnell vor, drückt den Kolben des Schnellfeuergewehrs an seine Schulter, zielt damit auf einen imaginären Feind und arbeitet sich im hohen Gras voran, vorbei an Büschen, so lautlos wie nur möglich. Die Waffe stets im Anschlag, den Zeigefinger nicht fern vom Abzug. „So muss es sein, Junge“, dreht er sich zu dem Rekruten um.

„Sie müssen noch viel an sich arbeiten. Ihr Überleben an der Front hängt davon ab.“ Yuriy und eine Gruppe ebenso erfahrener Kameraden bringen 20 Rekruten das Kriegshandwerk bei. Es ist der dritte Kurs. Insgesamt dauert die Ausbildung je drei Monate. Mit 25 Jahren sind Männer in der Ukraine grundsätzlich wehrpflichtig. In dieser Gruppe sind aber alle jünger. Sie sind Teil eines Programms des Verteidigungsministeriums, das junge Männer bis 24 Jahre dazu bringen soll, sich freiwillig für den Kriegsdienst zu verpflichten.

Wolodymyr Selenskyj – Vom Komödianten zum Symbol des Widerstands In der Nacht zum 24. Februar begann der russische Angriff auf die Ukraine. Danach sollen die USA Selenskyj angeboten haben, ihm bei der Flucht zu helfen. Selenskyj lehnte an, er und seine Regierung blieben in Kiew, auch als russische Truppen auf die Hauptstadt vorrückten. Die Nachrichtenagentur AP verbreitete Selenskyjs Antwort: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Seitdem ist er zum Symbol des ukrainischen Widerstands geworden.Fotostrecke ansehenKiew braucht mehr Soldaten für den Ukraine-Krieg: Prämien locken an die Front

Das ist ab 18 Jahren möglich. Für die Teilnahme am Programm gibt es staatliche Prämien oder auch die Möglichkeit, später kostenlos zu studieren. Wer sich für ein Jahr verpflichtet, erhält umgerechnet über 20.000 Euro. Beweisen sich die jungen Soldaten im Fronteinsatz, gibt es weitere Zuschläge. Je länger die Verpflichtung, desto mehr profitiert man davon: günstige Kredite für einen Wohnungskauf, nach einem Jahr das Recht, ins Ausland zu reisen. Generell gilt, wer zwischen 18 und 60 ist, darf das Land nur mit Genehmigung verlassen. Doch Soldaten auf Fronturlaub erhalten auch immer mal wieder eine Reiseerlaubnis ins Ausland.

Die Kampagne ist aus der Not geboren. Hunderttausende haben sich vor allem zu Beginn der russischen Vollinvasion freiwillig zur Armee gemeldet. Jetzt, über dreieinhalb Jahre später, fehlen Soldaten an allen Ecken und Enden. Der patriotische Moment von 2022 ist längst passé. Die Mobilisierung verläuft schleppend. Teilweise werden Männer im wehrpflichtigen Alter – nicht unbedingt freiwillig – direkt von der Straße wegrekrutiert. Die Greifer postieren sich oft an Kontrollpunkten und Haltestellen. Aus zuverlässigen Quellen ist zu erfahren, dass sich der Ansturm auf das „Jugendprogramm“ auch in Grenzen hält.

Gefechtsübung m Gelände. Gefechtsübung im Gelände. © Till Mayer

Bei Sascha ist das anders. Er sagt, er hätte sich auch ohne Prämie gemeldet. Zu Beginn der Invasion war er mit seiner Schwester und Mutter vor den Kämpfen nach Deutschland geflohen. „Berlin ist in Ordnung, aber ich konnte nicht einfach dort bleiben. Die Russen töten unsere Leute, zerstören unsere Städte und Dörfer. Ich will mein Land verteidigen“, sagt der 18-Jährige. Ein halbes Jahr hätte Sascha noch gebraucht, um die Schule abzuschließen. Er entschied sich, nicht zu warten. Kaum volljährig, kehrte er in die Ukraine zurück.

Junge Ukrainer kämpfen im Ukraine-Krieg: „tödliche Drohnen“ und „grausamer“ Krieg

Sascha macht einen freundlichen, besonnenen Eindruck, ein junger Mann, der erst überlegt, bevor er was sagt. Dann eine kurze Verschnaufpause vor dem nächsten Drill: Sascha blinzelt in die Sonne. Auf seinen Oberschenkeln liegt eine Kalaschnikow ohne Magazin, er lehnt sich zurück ins Gras, auf die Ellbogen gestützt. Es riecht nach Wald und nach der frischen Erde, die beiseite geschaufelt den Eingang zu einem Bunker flankiert. In einigen Wochen wird sich in einem solchen Bunker vermutlich der Großteil von Saschas Alltag abspielen. An vorderster Front.

„Ein Verwandter von mir kämpft in der ersten Linie. Er hat mir online erzählt, wie grausam der Krieg ist. Von den tödlichen Drohnen, dem Artilleriebeschuss, den vielen Gefallenen. Trotzdem will ich dienen“, sagt der junge Mann. Aber seine Mutter ist entsetzt. Halten konnte sie ihn aber nicht. „Meine deutschen Freunde konnten es auch nicht fassen, als ich ihnen meinen Entschluss mitteilte. Sie verstehen meine Beweggründe vielleicht nicht, aber sie unterstützen mich“, erzählt er.

Pause für die Rekruten zwischen Europaletten und Erdbunkern.Pause für die Rekruten zwischen Europaletten und Erdbunkern. © Till Mayer

Dann erzählt er, wie er im „Im Westen nicht Neues“ als Hörbuch auf seinem Smartphone hat. „Es hat mich tief bewegt. Einmal mussten wir von einem Lastwagen Waffen abladen, die von getöteten Soldaten stammten. Das hat mich an den Roman erinnert, da ging es um die Uniformen von Gefallenen“, sagt er nachdenklich. „Mir ist bewusst, welcher Gefahr wir uns aussetzen, wenn wir Soldaten werden.“ Von den Vorgängerkursen kommen schon die ersten Verlustmeldungen.

Kriegsmüde im Ukraine-Krieg

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko hat der Bild gegenüber den Menschen in der Ukraine eine große Kriegsmüdigkeit attestiert und die Notwendigkeit für Verhandlungen mit Russland betont. Infolge des seit fast dreieinhalb Jahren andauernden Kriegs sei „jeder in unserem Staat, in unserem Land müde von diesem Krieg“, so Klitschko am Freitag in Kiew.

Klitschko plädiert für eine „diplomatische Lösung“ mit Russland, bei der Gebietsabtretungen nicht ausgeschlossen sind. „Leider haben wir für diesen Krieg einen riesigen Preis bezahlt: die Leben von unseren Patrioten, von unseren Soldaten, von unseren Bürgern.“ Angesprochen auf die russischen Forderungen nach der Abtretung ukrainischer Gebiete sagte Klitschko, letztlich müsse Präsident Wolodymyr Selenskyj diese Frage beantworten. (dpa)

Wie die Jungen da zusammensitzen, erinnert das auch so an Remarque. Es sind die unterschiedlichsten Charaktere. Da sind die drei besten Freunde, die ständig zusammenglucken. Sie sind im selben Wohnblock aufgewachsen, zwei von ihnen leben als Waisen bei den Großeltern. Dann ist da Bogdan, der 22-Jährige hat sein Studium im Journalismus abgeschlossen. „Sicherlich ist die Prämie ein Grund, warum ich jetzt hier bin. Aber es ist nicht der einzige Grund“, sagt er leise. „Das Härteste ist nicht der Drill. Es ist schwer für mich zu verstehen: Ich bin jetzt in erster Linie kein Individuum mehr, ich bin Soldat.“

Vitali erzählt über den Ukraine-Krieg: an der Ukraine-Front wegen dem Geld

Neben ihm sitzt ein Kamerad, der seinen Bruder verloren hat. „Deswegen bin ich hier“, sagt er mit fester Stimme. Drei Meter gegenüber lehnt Vitali an einem Baumstamm. Er kommt aus einem Randbezirk von Kiew. „Dort habe ich schon das Kämpfen gelernt. Es ist ein hartes Los.“ Sein Lachen zeigt eine Reihe künstlicher Vorderzähne. Er ist der Methusalem der Gruppe, gerade 25 geworden. Vitali hat schon als Fleischer, Bauarbeiter und bei einem Paketdienst gearbeitet. „Ich bin noch mit 24 in das Programm aufgenommen worden. Ganz ehrlich, ich wollte mich nicht verstecken und vor der Polizei davonlaufen, wenn ich 25 bin. Da nehme ich lieber die Prämie mit und geh‘ freiwillig an die Front“, sagt er.

Den Kreis vervollständigt schließlich Daniel. Er ist groß und schlaksig, mit leuchtend blauen Augen. „Patriot“ nennen sie ihn hier alle. „Für mich ist es meine Pflicht zu dienen“, sagt er. Wie Sascha strebt er eine Karriere als Soldat an. „Die Ukraine wird für lange, lange Zeit eine starke Armee brauchen. Das ist so, wenn man Russland als Nachbarn hat.“

Vaterstolz und Elternfurcht – Truppenübungsplatz im Ukraine-Krieg wird Zielscheibe für Russlands Angriffe

Dann donnert plötzlich ein Kampfjet über das Gelände hinweg. Auf der gegenüberliegenden Anhöhe schmeißen sich Rekruten ins Gras oder hinter Hecken. Erschrockene Gesichter auch hier unter den Bäumen. Es ist nicht das erste Mal, dass Truppenübungsplätze das Ziel russischer Angriffe sind. Das Flugzeug dreht ab. „Es ist eines von uns, die Russen fliegen immer im Doppelpack“, ruft ein Unteroffizier. Doch für einen Moment lang war der Krieg ganz nah bei den Rekruten. Bald wird er es immer sein.

Ausbilder Yuriy (r.) versucht, die Front zu vermitteln.Ausbilder Yuriy (r.) versucht, die Front zu vermitteln. © Till Mayer

In Kostjantyniwka hat der Krieg sich festgesetzt. Russische Drohnen jagen Autos in der praktisch menschenleeren Innenstadt. Die Kirche im Zentrum ist schwer beschädigt, der Bahnhof ein Trümmerfeld, die Häuser reihum gezeichnet von Einschlagskratern. Das Leben ist aus der Stadt gewichen. Geblieben sind nur wenige Bewohnerinnen und Bewohner. Und die Verteidiger.

Andrii ist einer von ihnen. Der Veteran mit dem todesverachtend tätowierten Oberkörper, dem schwarzen Rauschbart und dem freundlichen Lächeln hört das Grollen der Artillerie der nahen Front. „Hier sind die Kamikaze-Drohnen der Russen das Problem“, winkt der 34-Jährige ab.

Andrii hatte sich 2022 gleich zu Beginn der Invasion verpflichtet. 2023 riss ihm eine Mine das linke Bein ab. Er kämpft auch mit Prothese weiter. Er hat auch von dem Programm für junge Soldaten gehört. „Wenn sie sich freiwillig melden, finde ich das richtig. Sie werden gebraucht“, erklärt er. Andrii hat einen sechsjährigen Sohn. „Wenn er jetzt 18 wäre, ich würde ihn nicht zurückhalten. Ich wäre so stolz auf ihn, genauso wie ich um sein Leben fürchten würde. Aber ich kämpfe hier, damit er es eines Tages nicht muss.“