In Grossbritannien wächst der Unmut über die Migrationspolitik der Regierung. Bei Demonstrationen stehen sich oft Gegner und Befürworter der Unterbringung von Asylsuchenden in Hotels gegenüber.
Mitten in London protestieren Unzufriedene gegen die Unterbringung von Migranten in einem Hotel (8. August). Im Bild der im Text erwähnte Mann mit dem Stalin-Leibchen.
Neil Hall / EPA
Seit einem Monat wird in Grossbritannien gegen die Unterbringung von Migranten in Hotels demonstriert. Die Regierung hat die Zahl der solcherart benützten Hotels wegen des schwelenden Unmuts in Teilen der Bevölkerung zwar längst stark verkleinert, noch immer aber leben rund 32 000 Asylsuchende in solchen Unterkünften. Die Demonstrationen ausgelöst hatte eine Verhaftung in Epping nördlich von London. Einem Asylsuchenden, der dort im «Bell»-Hotel untergebracht war, wird vorgeworfen, ein vierzehnjähriges Mädchen sexuell belästigt zu haben.
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Nun befürchten viele, dass es zu einer Wiederholung des von Gewalt geprägten Sommers 2024 kommen könnte. Damals waren nach einem Angriff auf eine Kindertanzschule in Southport, bei dem drei Mädchen getötet worden waren, heftige gewaltsame Unruhen ausgebrochen, mit Anschlägen auf islamische Einrichtungen und Asylhotels.
Die Demonstrationen sind im Zentrum Londons angekommen
Neu ist, dass sich die Demonstrationen nicht auf arme Gegenden im Norden des Landes beschränken, sondern selbst in wohlhabenden Stadtteilen im Zentrum der Hauptstadt London stattfinden wie etwa im Bankenviertel Canary Wharf. Im Hotel «Britannia International» sind dort seit Juli etwa 600 Asylsuchende untergebracht; für normale Gäste ist das Viersternehotel geschlossen. Hohe Gitter und Wachpersonal verhindern, dass Unbefugte das Hochhaus betreten.
Am vergangenen Freitag ist das «Britannia International» zum Zentrum einer explosiven Konfrontation geworden. Gegner und Befürworter der Unterbringung von Migranten in Hotels demonstrierten gleichzeitig. Auf der Treppe vor dem Hoteleingang hielten Mitglieder der Vereinigung Stand Up to Racism Transparente mit Slogans wie «Flüchtlinge willkommen –stoppt die extreme Rechte» in die Höhe. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite standen die Gegner, einige in die englische Fahne gehüllt. Mit Slogans wie «Terroristen-Unterstützer, haut ab» protestierten sie gegen die illegale Migration und deren Sympathisanten in Grossbritannien.
Einer der Gegner der Hotelunterbringung, der seinen Namen nicht nennen wollte, sagt, es gehe ihm vor allem um den Schutz der Kinder. Hunderte von papierlosen Migranten kämen über den Ärmelkanal. Man wisse nicht, ob sie kriminell seien und woher sie kämen, denn sie hätten ihre Pässe weggeworfen. Der etwa 60-Jährige hat «Love» auf seine Finger tätowiert und trägt seltsamerweise ein T-Shirt mit dem Gesicht von Josef Stalin. Er habe nichts gegen Einwanderung, sagt er, aber sie sollte in geordneten Bahnen verlaufen.
Er selbst habe 33 Jahre in London gearbeitet. Dann habe er nach einem Nervenzusammenbruch Arbeit und Wohnung verloren und sechs Monate lang auf einer Parkbank geschlafen. Ihm habe die Regierung nie ein Hotelzimmer angeboten, sagt er. Dasselbe gelte für Veteranen. Weil das unfair sei, protestiere er nun. Er sei rechts, aber kein Rechtsextremer, er wehre sich einfach gegen offene Grenzen und wolle nicht, dass die britische Kultur von Islamisten übernommen werde.
«Es spricht kaum mehr jemand Englisch hier»
Ein anderer Typ ist Mitchel, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, aber ebenfalls gegen die Migranten im «Britannia International» demonstriert. Der 29-Jährige stellt sich als Selbständigerwerbenden vor. Mit extremistischen Organisationen habe er nichts zu tun, sagt er. Er protestiere, weil er fünf Minuten vom Hotel wohne und sich um die Sicherheit im Quartier sorge.
Auf die Frage, ob er jemals belästigt worden sei oder schlechte Erfahrungen mit Asylsuchenden gemacht habe, sagt er: «Das kann ich nicht beantworten, weil man nicht mehr weiss, wer Migrant ist. Es spricht sowieso kaum mehr jemand Englisch hier.» Dann schiebt er nach, er habe nichts gegen Diversität. Einige seiner Kollegen seien Flüchtlinge, zwei Freunde kämen aus Israel. «Ich bin sicher kein Faschist, das sind falsche Labels.» Später schwenkt er eine grosse israelische Fahne Richtung Hotel, wo einige Demonstranten die palästinensische Flagge hochhalten.
Eher wie ein Althippie wirkt Graham mit seinem grauen Bart. Auch er nennt nur seinen Vornamen, spielt Djembe, verteilt Wassermelone und plaudert – gut gelaunt und humorvoll – mit allen. Aber auch er schimpft über die Migranten und bezeichnet die Regierung als machiavellistisch und taub. Über die Demonstranten auf der Gegenseite spottet er: «Sie sind bloss hier, um sich als die moralisch Überlegenen zu inszenieren. Es geht ihnen um sich selber. Keiner von ihnen würde einen Asylsuchenden bei sich zu Hause aufnehmen.»
«In einer der reichsten Zonen auf Mittellose losgehen»
Einer der Pro-Migration-Demonstranten vor dem Hoteleingang ist Lewis Nelson. «Wir sind hier, weil Rechtsextreme nun Hotels ins Visier nehmen, die Flüchtlinge beherbergen», sagt er. Es sei bekannt, dass viele dieser Proteste gegen die Migration von Neonazi-Gruppen wie der Homeland Party organisiert würden. «Wir signalisieren ihnen, dass sie in London nicht willkommen sind – im Gegensatz zu den Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen und unser Mitgefühl verdienen.»
Es herrsche die unsinnige Vorstellung, dass die Asylsuchenden in Saus und Braus lebten, sagt er. Dabei handle es sich meist um heruntergekommene Hotels. «Die Migranten leben in schlechten Verhältnissen und verfügen kaum über Geld. Sie dürfen nicht arbeiten, weil sie keine Bewilligung haben.» Lewis Nelson sagt, er verstehe, dass die Bürger wütend seien über die Lebenskosten, die Wohnungsnot und die Gesundheitsversorgung. «Aber an diesen Problemen sind nicht die Migranten schuld.»
Auf den Einwand, dass die meisten gegnerischen Demonstranten nicht wie Neonazis wirken würden, entgegnet er: «Aber sie lassen sich von ihnen einspannen, und ihre Slogans sind rassistisch.»
Ähnlich äussert sich Shawne, eine etwa 50-jährige Britin aus dem Südosten Londons. Der Aufstieg der Rechtsradikalen in ganz Europa sei erschreckend, sagt sie. Bis jetzt hätten diese Kräfte kaum Unterstützung in London gehabt. «Und jetzt protestieren sie mitten im Geschäftsviertel. Wir sind hier in einer der reichsten Zonen Europas, aber sie gehen auf Mittel- und Rechtlose los.»
Während sich zu Beginn der Kundgebungen vom Freitag etwa je dreissig Personen gegenüberstanden, beobachtet von ebenso vielen Polizisten und Journalisten, wuchs die Zahl der Demonstrierenden kontinuierlich an, die Stimmung wurde zunehmend aggressiver. Zu den Migrationsgegnern zählten Mütter mit Babys, aber auch einige vermummte Scharfmacher, die die andere Seite mit obszönen Beleidigungen provozierten. Als einer von ihnen eine Flasche auf die Gegenseite warf, stellte sich die Polizei zwischen die Demonstrantengruppen. Später wurde der ganze Strassenabschnitt gesperrt.
Auch wenn die Zahl der Protestierenden überschaubar blieb, sollte offensichtlich jede Eskalation im Keim erstickt werden. Gewalttätige Ausschreitungen im berühmten Londoner Business-Distrikt, die international Schlagzeilen machen, wären für die britische Regierung ein Albtraum.