Irina Nesterenko, 54 Jahre alt, ist eine ehemalige ukrainische Turnerin aus Charkiw. Die Trägerin der Auszeichnung „Sportmeisterin der Sowjetunion“ arbeitete von 2005 an auch als Trainerin. 2016 gründete Nesterenko eine Cheerleader-Gruppe für Seniorinnen mit dem Namen „Nice Ladies“. 2017 erfolgte die erste Teilnahme an der Europameisterschaft in Slowenien. Ein Jahr später gewann die Gruppe den zweiten Platz bei den Wettkämpfen in den Niederlanden. 2022 gründete Nesterenko die Gruppe „Sunrise“, die im Juli 2025 bei der EM in Wiesbaden Rang zwei belegte.
Frau Nesterenko, Sie haben in der Ukraine Cheerleader-Gruppen für Seniorinnen gegründet. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ursprünglich war ich Turnerin, damals noch in der UdSSR hatte ich den Grad „Sportmeisterin der Sowjetunion“ (ein Sporttitel, der für die Erfüllung bestimmter Leistungsstandards verliehen wurde / d. Red.). Später habe ich als Trainerin und in einem Fitnessklub gearbeitet. Ein Freund, der unseren Verband in Charkiw leitet, schlug irgendwann vor, dass ich bei der Europameisterschaft „50 plus“ als Cheerleaderin auftreten sollte. Ich habe dann schnell ein Team rekrutiert und unter dem Namen „Nice Ladies“ mit der Gruppe ein Programm zusammengestellt. Das war vor acht Jahren. Wir trainierten, fuhren 2018 zur EM in die Niederlande und wurden dort sogar Zweite.
Was faszinierte Sie damals an dem Sport?
Es ist zwar wie ein Hobby für mich, aber dennoch bin ich sehr wettkampforientiert. Es war schön, meine Freundinnen zu treffen, mit ihnen gemeinsam zu trainieren, aufzutreten und zu gewinnen. Dann aber kam der Krieg.
War noch an Sport zu denken?
Wir kommen aus Charkiw, das liegt nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Am 24. Februar 2022 kamen die Panzer direkt zu uns. Wir wurden vom ersten Tag des Krieges an beschossen, erlebten Mord und Zerstörung. Ich kenne keine einzige Freundin, die nicht betroffen ist. So mussten viele, die ich kenne, unter Bombenangriffen und unter furchtbaren Anstrengungen aus Charkiw fliehen. Auch ich bin geflohen, kam aber ein Jahr später zurück.
Zwei Jahre nach Kriegsbeginn haben Sie eine weitere Gruppe in Charkiw gegründet – die „Sunrise“. Mit dieser sind Sie aktuell aktiv, mitten im Kriegsgebiet. Warum sind Sie dem Cheerleading treu geblieben in einer solchen Situation?
Es sind auch einige Freundinnen geblieben, auch wenn wir massiv bombardiert werden. Es ist so schwer, hier ein wenig Ruhe in den Kopf zu bekommen. Man darf nicht den ganzen Tag lang über den Krieg nachdenken. Das geht nicht. Die Realität für uns ist aber so, als ob man 24 Stunden am Tag in einer grausamen Lotterie wäre, und in dieser wird ausgelost: Entweder wir wachen morgens auf oder nicht, wir leben oder werden getötet. Wir leben alle in einem Zustand, in dem es eigentlich keine Ablenkung gibt. Deshalb sagte ich zu meinen Mädchen: Wollt ihr zum Training gehen? Das ist das Einzige, was euch ablenkt. Das ist der Moment, der den Körper arbeiten lässt und den Kopf vergessen lässt.
Sind die anderen Mitglieder Ihres Teams auch ehemalige Leistungssportlerinnen?
Absolut nicht. Das ist eine bunte Mischung. Wir haben zwei Buchhalterinnen, eine Kosmetikerin. Da ist ein Mädchen, das in einer Entbindungsklinik als Geburtshelferin gearbeitet hat. Ich selbst bin Rentnerin. Das Durchschnittsalter in unserem Team liegt bei 57 Jahren. Als ein Mädchen zum ersten Mal kam, sollte sie einen Ausfallschritt machen, konnte aber nicht mehr aufstehen. Sie kniete nieder und kam nicht mehr hoch. Sie hatte noch nicht einmal richtige Sportkleidung. Am Anfang habe ich daher die Muskeln der Mädchen gestärkt, sie sollten sich außerdem viel dehnen. Sie haben gelernt, sich korrekt und später synchron zur Musik zu bewegen. Und das beherrschen sie inzwischen auf grandiose Weise.
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Wie läuft das Training ab, wenn man sich in ständiger Lebensgefahr befindet?
Wir haben zum Beispiel einen kleinen Raum im Keller im Stadtzentrum. Der Raum ist gerade groß genug, dass ein Fenster in der Mitte Platz hat. Das Zentrum wird oft beschossen, aber unterirdisch ist es im Prinzip sicher – zumindest glauben wir das. Man sollte sich aber, wenn die Sirenen ertönen, von den Fenstern fernhalten. Wenn die wegen der Druckwellen zerspringen, kann es gefährlich werden. Und natürlich kann jederzeit auch eine russische Rakete das Gebäude treffen. Wenn das Haus auf uns stürzt, ist es vorbei. Heute haben wir zum Beispiel im Wald trainiert – keine Halle und kein Bunker. Zwar hörten wir immer noch die Kanonade, aber wir waren zumindest in der Natur. Wir kommen oft hierher, bereiten uns vor, machen Pläne wie normale Menschen eben. Doch seit vier Jahren hören wir diese Bombardierungen und Explosionen täglich und ohne Unterbrechung. Ich trainiere seit mehr als 20 Jahren Mädchen und Frauen. Deshalb kann ich sagen: Im Allgemeinen steht Sport für ein Glücksgefühl. Genau unter diesen Bedingungen trainieren die Mädchen und sind trotzdem mit so viel Freude dabei.
Trotz der Invasion war es Ihnen möglich, an internationalen Wettbewerben teilzunehmen, zuletzt im Juli an der EM in Wiesbaden.
Wir haben unser letztes Geld dafür zusammengelegt, die Kostüme selbst genäht. Zwei Tage waren wir unterwegs, standen stundenlang bei 35 Grad Celsius an der Grenze. Aber das konnte unseren Geist nicht brechen. Denn das Wichtigste war: Zumindest werden wir hier nicht bombardiert. Und Wiesbaden hat uns sehr gefallen. Die Stadt hat uns mit ihrer Schönheit überrascht.
Konnten Sie dort etwas Frieden finden, den Sie von Ihrer Heimatstadt vor dem Krieg kannten?
Nicht ganz. Die ständigen Flugzeuge über unseren Köpfen haben uns anfangs Angst gemacht, und als wir Feuerwerkskörper hörten, sind einige der Mädchen erschrocken aufgesprungen. Das ist schwierig für uns.
Wie war es für Sie, in Sicherheit und umgeben von Zuschauern wieder in einer Halle auftreten zu können?
Es war ein bewegender Moment, weil einige Freundinnen, die ins Ausland geflohen waren, extra für die Wettkämpfe nach Deutschland gekommen sind aus Belgien, der Schweiz oder Tschechien. Sie saßen auf der Tribüne und weinten. Es war ein Treffen mit Menschen, die wir so lange nicht mehr gesehen hatten.
Bekamen Sie auch Unterstützung von den Leuten aus anderen Ländern?
Absolut. Das war mit vielen Emotionen verbunden. Unsere Freunde standen auf der Tribüne und riefen: „Ukraine!“ Und die Italiener standen auf und riefen: „Ukraine!“ Die Engländer riefen: „Ukraine!“ Und die Deutschen riefen es ebenfalls. Unsere Mädchen hatten Tränen in den Augen. Diese Art von Emotion bekommt man sonst nirgends. Und dann ist da das Adrenalin vor dem Auftritt, das Gefühl des Stolzes, seine Ziele erreichen zu können. Der Reiz des Wettbewerbs, die Freude über die Unterstützung, der Stolz auf unser Land, das so viel Rückhalt erfährt. Hier verfolgen wir alle das gleiche Ziel. Das ist so inspirierend und macht uns glücklich. Wir sind in diesem Gefühl vereint, als Team und als Nation.
Ist das der Pokal von den Wettkämpfen, den wir bei Ihnen im Hintergrund an der Wand sehen?
Ja, den haben wir am Ende bekommen, aber er verstaubt. Was uns mehr bedeutet hat, waren die Wäscheklammern, die wir erhalten haben.
Das wird beim Cheerleading neuerdings so gemacht. Die Klammern wurden individuell von den Teilnehmerinnen handbemalt und untereinander getauscht. Auch wir haben welche mitgebracht und mit ukrainischen Symbolen verziert. Am Ende gibt es nur einen Pokal, aber viele bunte Wäscheklammern. Die ehren wir wie Medaillen. Das sind schöne Erinnerungsstücke, die uns daheim wieder fröhlicher stimmen.
Wie schwer war es für die Athletinnen, im Wettkampf fokussiert zu bleiben, während der Rest der Familie im Kriegsgebiet lebt und teilweise an der Front steht?
Das betrifft im Moment zum Glück niemanden von uns. Mein ältester Sohn ist 25. Er hat bereits gekämpft, wurde aber aufgrund seiner Arbeit abgezogen. Mein anderer Sohn ist noch zu jung für die Einberufung. Unsere Ehemänner sind alle über 60 Jahre alt und müssen derzeit ebenfalls nicht kämpfen.
Wie stehen Ihre Männer dazu, dass ihre Ehefrauen als Cheerleaderinnen auftreten?
Die sind begeistert, wenn ihre Frau durchtrainiert in einem schönen Kostüm auftritt. Sie schauen hin und sind schockiert: „Die Frau lächelt ja wieder, die Beine sehen schlank aus, und wie anmutig sie sich bewegt!“ Das ist eine Inspiration für die ganze Familie, wenn die Frau trainiert, glücklich nach Hause kommt und diese positive Energie weitergibt. Darum geht es: Wir sind wie ein Motor positiver, sonniger Energie. Dafür steht auch der Name „Sunrise“, dass der Sonnenaufgang Hoffnung gibt und dass es einen Morgen für uns und auch für die Ukraine geben wird.
Welche Pläne verfolgen Sie mit dem „Sunrise“-Team?
Wir wollen an weiteren internationalen Meisterschaften teilnehmen und dann die EM gewinnen. Wir wurden ja schon einmal Zweite. Wir werden weiterhin versuchen, uns des Lebens zu erfreuen an all den Fronten, an denen wir kämpfen. Wer weiß? Wenn alles irgendwann wieder besser geworden ist, kommen diejenigen, die wir in Wiesbaden getroffen haben, vielleicht wieder zurück in ihre Heimat und schließen sich unserem Team an.