Während auf dem Neumarkt in Solingen noch am Tag zuvor der Opfer des Terroranschlags von vor einem Jahr gedacht wurde, geht seit Montag die juristische Aufarbeitung weiter. Und wer an diesem Prozesstag am Düsseldorfer Oberlandesgericht den Erkenntnissen der Handyauswertung des Angeklagten folgt, dem wird klar: Der Messerangriff auf dem Stadtfest im August vergangenen Jahres mit drei Toten und vielen Verletzten war offenbar die Tat eines überzeugten IS-Anhängers, der tief in der dschihadistischen Weltanschauung verwurzelt ist – und sie ganz unverhohlen im Internet verbreitete.
Immer wieder grinst der wegen dreifachen Mordes und zehnfachen Mordversuchs angeklagte Issa Al H., als seine Chatverläufe und Profilbilder im Gerichtssaal an die Wand geworfen werden. Hinter der Glasscheibe auf der Anklagebank des Hochsicherheitsgebäudes verfolgt der Syrer genau, welche Erklärungen der Ermittlungsbeamte des Bundeskriminalamts (BKA) dazu abgibt, der an diesem Montag als Zeuge geladen ist. Es geht um die digitalen Spuren des Angeklagten: Fotos, Videos, und vor allem dutzende Fakeprofile, die der Syrer den IT-Spezialisten zufolge in Sozialen Medien verwendet hat. Es geht um etliche Nutzernamen aus wirren Buchstaben-Zahlen-Kombinationen, deren Menge selbst den Vorsitzenden Richter erstaunt. „Das sind schon extrem viele Identitäten“, so Winfried van der Grinten.
Was Issa Al H. mit seinen Profilen in Teilen seit 2019 auf Facebook, Tiktok und „X“ verbreitete, ist IS-Propaganda in Reinform, die das Gericht seitenweise genau unter die Lupe nimmt. Übersetzer und Islamexperten werden immer wieder hinzugezogen, Arabische Schriftzeichen geprüft, Bilder verglichen, Einordnungen des Polizisten erfragt. Einmal hilft der Angeklagte sogar selbst mit dem Hinweis, welcher inhaftierte Islamist auf einem Foto zu sehen ist. Sein Arabisch klingt hart, seine Stimme jungenhaft. Ein 27-Jähriger, der sich als Soldat Gottes sieht mit der Aufgabe, Ungläubige zu töten – das ist das Bild, was die Auswertung seines Handys darlegt. „Möge Allah dich als Märtyrer aufnehmen“, so ein Tiktok-Post, das die Ermittler ihm zuordnen.
Doch nicht nur in den Sozialen Medien verbreitete der Syrer IS-Propaganda, auch verschiedene Chatgruppen scheinen Ermittlern relevant. Aus einer Telegramgruppe mit vier weiteren Teilnehmern etwa sicherten sie ein 55-minütiges Video, mutmaßlich Aufnahmen aus einem IS-Kampfgebiet, das Sprengstoffanschläge zeigt, Hinrichtungsszenen, abgetrennte Häupter. Aus einer anderen Telegramgruppe mit 95 Mitgliedern sicherten Ermittler den Screenshot einer „Abschiebewarnung“, die offenbar regelmäßig von Aktivisten für Geflüchtete versendet werden. In dem Fall soll es um eine Abschiebung nach Bulgarien gegangen sein, nicht um die bei Issa Al H. tatsächlich misslungene.
Wie perfide der Angeklagte wohl plante, zeigen diese Erkenntnisse der Handyauswertung: Dem BKA-Beamten zufolge hat er nicht nur einen speziellen Zugang (Browser) ins sogenannte Darknet genutzt, sondern sich rund drei Wochen vor der Tat via Telegram ein Anleitungsvideo zur Manipulation von Standortdaten besorgt. Ziel der Anleitung sei die Verschleierung des eigenen Internetverhaltens, so der Ermittler. Damit könne man GPS-Daten eines Handys so verfälschen, dass es so aussieht, als befinde man sich in Tschetschenien oder sonst wo.
Was die Akte der Handyauswertung noch auflistet: Verschiedene Screenshots von „Fake GPS-Standorten“, die auf dem Handy gefunden wurden, gespeicherte Aufnahmen von Google Maps, neben Solingen etwa welche von Blankenheim, sowie echte Fotos von Orten wie der Kölner Hohenzollernbrücke. Warum diese auf dem Handy von Issa Al H. zu finden waren, bleibt unklar.
Bei dem Anschlag am 23. August sind zwei Männer und eine Frau getötet und viele weitere Menschen teils schwer verletzt worden. Am Dienstag wird der Prozess fortgesetzt, der Witwer der beim Anschlag verstorbenen Frau soll als Zeuge gehört werden.