US-Präsident Trump könnte Kiew nach dem Gipfel in Alaska militärisch fallen lassen. Dann würden der Ukraine Rüstungsgüter und Aufklärungsdaten fehlen, sagt Oberst Reisner. Sie könnte sich zu einem Diktatfrieden gezwungen sehen. Die Russen würden in diesem Fall besonders vom Donbass profitieren.

ntv.de: US-Präsident Donald Trump beharrt darauf, dass die Ukraine für Friedensverhandlungen zu einem „Gebietstausch“ mit den Russen bereit sein müsse. Welche ukrainischen Gebiete meint Trump?

Markus Reisner: Es ist noch nicht zu 100 Prozent klar, wie genau die Bedingungen sich darstellen. Es hat schon einige Irritationen gegeben. Trumps Sondergesandter Steve Witkoff ist aus Moskau wohl mit einer Botschaft zurückgekommen und hat sich mit den Europäern ausgetauscht. Aber bislang ist unklar, was genau besprochen worden ist. Ein außenpolitischer Berater von Präsident Wladimir Putin, Juri Uschakow, hat das Gespräch mit Witkoff jedenfalls positiv bewertet. Die Russen dürften es also aus ihrer Sicht geschafft haben, Witkoff ihre wesentlichen Forderungen zumindest auf den Tisch zu legen.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

(Foto: privat)

Sie meinen Putins Forderung, Russland sollten fünf teilweise besetzte, ukrainische Regionen zugesprochen werden?

Putin geht es die ganze Zeit um die fünf Regionen Luhansk und Donezk im Donbas, die Halbinsel Krim sowie Saporischschja und Cherson. Die zwei Letztgenannten sollen zumindest teilweise den Russen zufallen, der Rest gänzlich. Das liegt jetzt auf dem Tisch. Wenn man von „Gebietstausch“ redet und die fünf Regionen Russland zugesprochen werden sollen, dann bleibt eigentlich kaum etwas übrig, das die Russen im Gegenzug anbieten könnten. Es gibt nur noch die Region von Charkiw bis fast nach Kupjansk. Dort sind die Russen teilweise bei Sumy und Charkiw über die Grenze vorgestoßen. Dieses Gebiet könnten Sie theoretisch zurückgeben. Aber das sind geringe Flächen im Vergleich zu dem, was die Russen bekommen würden, wenn sie die beiden Provinzen Luhansk und Donezk zur Gänze hätten.

Es kursiert noch eine andere Version von Witkoffs Aussagen gegenüber europäischen Regierungsbeamten. Demnach wäre ein Rückzug Russlands auch aus Saporischschja und Cherson denkbar. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?

Das halte ich für unwahrscheinlich. Hier geht es konkret um den Verlauf des Flusses Dnepr. Im Moment haben die Russen jene Teile des Oblasts Cherson im Besitz, die sich südlich des Dnepr sich befinden – und alles nördlich des Flusses ist in ukrainischem Besitz. Würden die Russen sich aus Cherson zur Gänze zurückziehen, könnten die Ukrainer auf der anderen Seite des Flusses übertreten. Das würde sie in eine günstigere Position bringen für zukünftige militärische Rückeroberungsversuche. Das wird Russland kaum zulassen. Bei Saporischschja ist es etwas anders. Auch diese Region wird zwar teilweise getrennt durch den Fluss Dnepr – aber dort gibt es auch den Landanteil ostwärts des Flusses, der 2023 schon heftig umkämpft war. Dort haben die Ukrainer versucht, während ihrer damaligen Sommeroffensive vorzustoßen. Ohne Erfolg. Deshalb ist es genauso unwahrscheinlich, dass die Russen Saporischschja aufgeben.

Besonders Luhansk und Donezk sind militärisch wichtig für die Ukraine. Welchen Vorteil hätte Russland, wenn der Donbass aufgegeben würde von den Ukrainern?

Falls die Russen den Donbass bekommen, hätten sie drei Vorteile. Erstens ist Russland als Aggressor in die Ukraine einmarschiert und würde nun, im vierten Jahr des Krieges, dafür belohnt werden. Dieses Signal wäre für Putin wichtig, denn er kann es für die eigene Bevölkerung nutzen, im Sinne von: Die Opfer waren nicht umsonst – wir haben jetzt das bekommen, was uns zusteht. Aus diesem Grund hat Russland diese Regionen bereits als Teil des russischen Staatsgebietes in die Verfassung aufgenommen. Das heißt, aus der russischen Sicht kämpfen die Russen um die Inbesitznahme des Territoriums, das ihnen gemäß Verfassung zusteht. Das ist das russische Narrativ. Das betone ich hier aber nur, damit man das einordnen kann.

Welche Vorteile gibt es noch?

Abgesehen von Putins Propaganda-Erfolg wäre der Donbass zweitens wirtschaftlich eine interessante Region für die Russen. Das belegt etwa der Schlagabtausch zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Trump hinsichtlich dieses Deals für den Rohstoffabbau. Da ging es vor allem um den Donbass und die dortigen Bergbaugebiete. Und drittens wäre der Donbass rein militärisch für Russland ein enormer Gewinn. Die Russen würden mit einem Schlag hinter die letzten Verteidigungsstellungen der Ukraine kommen. Die Ukraine baut im Donbass gerade eine weitere Verteidigungsstellung in der Tiefe aus. Falls die Russen den Donbass bekommen, könnten sie vormarschieren und würden vor dem offenen Land stehen. In einer weiteren militärischen Aktion könnten die Russen dann ungehindert in Richtung Westen vorstoßen.

Also würden sich die Russen dadurch Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte des Krieges ersparen.

Davon kann man ausgehen. Denn es wird momentan nicht von Friedensverhandlungen geredet, sondern von einem Kompromiss, der auf dem Tisch liegt und von Trump als Waffenstillstand verkauft wird. Das erinnert an die Situation in Nord- und Südkorea 1953, wo der Konflikt erst nach langen und zähen Verhandlungen eingefroren wurde. Dieser Zustand dauert bis heute an. Es wurde kein Friedensvertrag unterzeichnet. Was auch aufhorchen lässt: US-Vize-Präsident JD Vance sagte bereits, die Amerikaner hätten kein Interesse mehr an diesem Krieg in der Ukraine und haben die Finanzierung dieses Krieges im Prinzip eingestellt. Er fügte hinzu: Falls die Europäer die Initiative ergreifen wollten, dann sollen sie das tun. Sie könnten dann in den USA Waffen kaufen.

Was wäre das Worst-Case-Szenario nach dem Gipfel in Alaska?

Das Worst-Case-Szenario wäre, dass die USA sich zur Gänze von der Ukraine abwenden. Die nachrichtendienstliche und geheimdienstliche Unterstützung der USA mit Aufklärungsdaten ist entscheidend für das Lagebild, das die Ukraine hat. Wenn die USA wegfallen, müsste Europa in die Bresche springen. Europa ist aber offensichtlich nicht in der Lage, die Ukraine in ausreichendem Maß zu unterstützen, ob im geheimdienstlichen Bereich oder auch bei der Waffenhilfe. Das zeigt der Umstand, dass die Europäer bei den Amerikanern Waffen kaufen müssen, die sie den Ukrainern zur Verfügung stellen, weil sie selbst nicht in der Lage sind, diese zu fertigen. Durch einen Wegfall der USA müsste die Ukraine zwangsläufig ihre Strategien anpassen. Sie würde unter Umständen gezwungen sein, Putins Diktatfrieden anzunehmen. Das bedeutet im schlimmsten Fall: Die Ukraine, so wie wir sie heute kennen, würde nicht mehr bestehen.

Muss die Ukraine den Diktatfrieden wirklich annehmen? Könnte sie nicht einfach weiterkämpfen, mit weniger Ressourcen?

Die Ukraine hat schon gesagt, sie würde weiterkämpfen. Einige Nato-Staaten in Europa haben ihr dafür bereits Unterstützung zugesichert. Aber besonders im Bereich der Aufklärungsdaten und potenten Waffensystemen ist Europa nicht in der Lage, das zu kompensieren, was die USA gerade tun. Auch die Ukraine kann das nicht kompensieren, obwohl sie ihre Rüstungsproduktion hochgefahren hat und zum Beispiel massenhaft Drohnen herstellt. Die Europäer müssen gegenüber der Ukraine ehrlich sein, wenn sie das Land nicht ausreichend unterstützen können.

Also ist ein Diktatfrieden wahrscheinlicher?

Es wäre bitter, diesen sogenannten Waffenstillstand anzunehmen, unter den oben genannten Bedingungen. Aber die Ukraine muss abwägen. Das Fegefeuer des Abnutzungskrieges würde sonst weitergehen, zuungunsten der Ukraine. Weitere Soldaten könnten fallen, Hunderttausende von ihnen. Die Amerikaner sähen teilnahmslos zu und die Europäer wären nicht in der Lage oder gar Willens, etwas dagegen zu tun. Und Russland würde sich langfristig mit den fünf Regionen nicht zufriedengeben.

Was wäre das nächste Ziel der Russen?

Aus meiner Sicht ist das Ziel der Russen nach wie vor, mindestens bis zum Dnepr vorzustoßen und vielleicht auch Odessa einzunehmen. Den Vorstoß zum Dnepr bräuchten sie, um eine Pufferzone Richtung Moskau auszubauen. Denn die Ukrainer greifen Ziele in Russland mit ihren weitreichenden Drohnen an. Die Drohnen werden vor allem abgefeuert aus den Regionen nordöstlich von Kiew. Falls die Russen dieses Gebiet einnehmen würden, könnten sie die Pufferzone in Richtung Westen ausbauen.

Wenn wir den Blick auf die Front heute werfen: Im Donbass toben heftige Kämpfe, vor allem um die Städte Kupjansk, Sewersk, Kostjantynivka, Pokrowsk und Nowopawliwka.

Genau das sind die fünf Hotspots. Ich unterteile die Frontlinie immer in drei Abschnitte: der Nordabschnitt, der Mittelabschnitt und der Südabschnitt. Im Norden und im Süden versuchen die Russen, die Ukrainer zu binden, damit sie ihre Kräfte nicht verschieben können. Das sieht man zum Beispiel im Raum Cherson, wo die Russen massiv ihre Angriffsanstrengungen erhöht haben. Aber das Schwergewicht der russischen Anstrengungen ist der mittlere Abschnitt. Dort gibt es diese Räume Kupjansk, Sewersk, Kostjantynivka, Pokrowsk und Nowopawliwka. Kupjansk ist eine größere Stadt, die von den Russen gerade aus der westlichen Richtung angegriffen wird. Sie ist von allen fünf Städten diejenige, die am weitesten im Osten liegt.

Wie sieht es rund um die anderen Städte aus?

Zwischen Kostjantynivka und Pokrowsk ist es den Russen gelungen, einen Durchbruch zu erzielen, der teilweise von ukrainischen Verteidigungsstellungen aufgefangen wurde, aber immer noch an Raum gewinnt. Ein russischer Vorstoß zehn Kilometer nördlich von Pokrowsk zielt auf die wichtigsten Versorgungsrouten der ukrainischen Streitkräfte in diesem Raum. Falls die Russen diese Versorgungsrouten endgültig unterbrechen, wird es schwierig, die Stadt weiter zu halten. Dann würde nicht nur der Nachschub fehlen, es wäre auch keine Versorgung von Verwundeten mehr möglich. Das leitet meistens die Besitznahme von Städten ein.

Das heißt, wenn die Versorgungslinie gekappt wird, ist Pokrowsk faktisch eingenommen.

Aus meiner Sicht ist Pokrowsk schon dabei, zu fallen. Die Russen bringen trotz ihrer Verluste immer wieder kleinere Gruppen von Soldaten in die Stadt hinein. Dasselbe ist bei Kostjantynivka der Fall. Wir haben im Donbass nicht eine wirkliche Frontlinie mit Schützengräben, die sich gegenüberliegen, sondern vor allem Graubereiche. Die Ukrainer verteidigen sich, weil sie personell so ausgedünnt sind, aus kleinen Stützpunkten heraus. Zwischen den Stützpunkten gibt es große Abstände von oft mehreren Kilometern. Auch die Russen müssen wiederum aufgrund der Bedrohung durch die ukrainischen Drohnen in kleinen Trupps vormarschieren. Das heißt, wo auch immer sich eine Lücke auftut, können die Russen durchschlüpfen. Die Ukrainer sagen: Die Russen sind wie Wasser, sie kommen durch jede Ritze – und damit auch hinter die ukrainischen Stützpunkte.

Wenn man sich vorstellt, wie die Ukrainer auf einem Stützpunkt stehen und nicht wissen, ob ihnen der Feind schon im Nacken sitzt – wie lange können sie diese Verteidigungstaktik aufrechterhalten?

Das ist das Schwierige an der Situation. Jeder Stützpunkt, der für sich alleine kämpft, ob er nur drei Mann umfasst oder einen ganzen Zug mit bis zu 30 Mann, kann nur so lange kämpfen, bis ihm Munition, Nahrung und Wasser ausgehen. Wasser ist jetzt in der heißen Jahreszeit ein besonderes Thema. Und wenn sie ihre Munition auf dem Stützpunkt verschossen haben werden, müssen die ukrainischen Soldaten eine Entscheidung treffen: Gehen Sie zurück oder bleiben Sie und riskieren Sie, dass die Russen sie gefangen nehmen? In Pokrowsk haben die Ukrainer begonnen, kleine Trupps aus der Stadt zurückzuziehen, weil sie vermeiden möchten, dass größere Verbände eingekesselt werden.

Haben die Ukrainer überhaupt eine Chance, diese sehr breite Front anders zu verteidigen als mit kleinen Stützpunkten?

Die Ukraine kann diese Art und Weise nicht erfolgreich weiterführen. Sie müsste stattdessen den Angriffsschwung des Gegners unterbrechen. Und das kann sie nur, indem sie auf die Tiefe des Gegners wirkt – das heißt: auf die Tiefe der russischen Kräfte, auf die dortigen Logistik-Knotenpunkte, Versorgungslinien und Gefechtsstände. Die Ukraine versucht es bereits zum Teil. Es gab in den letzten 14 Tagen insgesamt 13 erfolgreiche Angriffe ukrainischer Kräfte auf für Russen wichtige Eisenbahnlinien. Aber der Erfolg solcher Angriffe lässt sich noch nicht messen. Es kann sein, dass er sich erst nach Wochen oder Monaten einstellt. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Die Russen können bislang weiter vormarschieren, von Tag zu Tag ein bisschen schneller.

Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl