Es gibt eine Zahl, für die ich mich schäme: 1981. Es ist die Anzahl an Minuten, die ich jede Woche an meinem Handy verbringe. Mehr als einen ganzen Tag pro Woche verschwende ich auf Instagram, WhatsApp und mit unnützen Minispielen auf meinem Smartphone. Damit liege ich etwas über dem Schnitt in meiner Altersklasse, der Generation Z.
Die Folgen von ausufernder Bildschirmzeit sind erforscht: Verkürzte Aufmerksamkeitsspanne, Schlafstörungen und soziale Isolation sind nur einige der möglichen Symptome. Ein Unternehmen aus den Niederlanden will gegensteuern. Die Idee des „Offline Clubs“: Einen Abend lang sollen Gäste in einem Café ihr Handy abgeben, sich analogen Dingen widmen und andere Offliner, wie die Teilnehmer hier genannt werden, kennenlernen. Das Konzept trifft den Zahn der Zeit, es gibt Ableger in London, Paris und auch Berlin.
Was bringt das? Macht man hier nur einen dreistündigen analogen Ausflug fürs Gewissen, damit man danach entspannt weiter surfen kann? Oder ist der „Offline Club“ wirklich ein kurzer, aber motivierender Blick zurück in eine Welt ohne Smartphones, an die ich, Jahrgang 2002, mich kaum noch erinnern kann?
Das Café Engels unweit des Tempelhofer Feldes.
© Nick Wilcke
An einem lauen Sommerabend Ende Juli gehe ich ins Café Engels in Neukölln, um das herauszufinden. Ein klassischer Treffpunkt in Sichtweite des Tempelhofer Felds. Die Wände sind teils unverputzt, hinter der Bar steht eine imposante silberne Siebträgermaschine und manche Deckenleuchten bestehen aus alten recycelten Weinflaschen. Soweit so Berlin.
Am Eingang werde ich freundlich von einer Frau in Empfang genommen. Katharina Schüßler ist die Organisatorin des Berliner Ablegers des Offline Clubs. Vor etwa einem Jahr sah sie auf Instagram ein kurzes Video von 250 Menschen, die gemeinsam in einer Amsterdamer Kirche lesen, schreiben und einfach existieren. Ganz analog. Schüßler war davon so berührt, dass sie sich bewarb, um das Projekt nach Berlin zu bringen.
Mit Erfolg: Im Februar wurde sie eingestellt. Seitdem sucht sie in der ganzen Stadt Bars und Cafés, die offen für die Idee sind. Einmal pro Woche finden die Treffen inzwischen statt. Der Eintritt kostet zwischen sieben und acht Euro.
Katharina Schüßler organisiert den Berliner Ableger des Offline Clubs.
© Nick Wilcke
Im Café Engels treffen sich an diesem Abend etwa ein Dutzend Menschen. Studenten, Rentner und Eltern, den durchschnittlichen Offliner scheint es zumindest heute nicht zu geben. Und auch Schüßler sagt: „Eigentlich ist’s immer eine bunte Mischung.“ Zunächst aber der erste und wichtigste Programmpunkt. Mein Handy tausche ich gegen einen kleinen Chip mit einer Nummer, die nächsten drei Stunden darf es im sogenannten „Phone Hotel“ residieren.
Dann setze ich mich an einen der extra für diesen Abend reservierten Tische im hinteren Teil des Cafés. Reflexhaft greife ich in meine leere Hosentasche und erschrecke darüber, wie sehr mein technischer Begleiter zu einem Teil von mir geworden ist.
Das „Phone Hotel“, in dem die Smartphones mindestens drei Stunden eingeschlossen sind.
© Nick Wilcke
Mein digitales Leben begann mit dreizehn Jahren. Mein Vater bekam von seinem Arbeitgeber ein neues Handy, was in der familiären Hackordnung bedeutete, dass ich sein altes erbte. Mehr als mein halbes Leben begleiten mich also Smartphones durch meinen Alltag. Vermutlich gab es in dieser Zeit keinen Tag, an dem ich es nicht benutzt, selten einen ruhigen Moment, in dem ich nicht zumindest kurz draufgeschaut habe.
Beim Offline Club wird deshalb zunächst eine Stunde lang analoge „Me-Time“ angeordnet: Zeit für sich allein, mit einem Roman, dem Tagebuch oder einfach nur den eigenen Gedanken. Ich lese ein wenig, schreibe einen Brief und starre gen Decke.
Kein Handy, mehr Abenteuer Urlaub ohne Smartphone – geht das wirklich?
Dabei denke ich darüber nach, dass dieser ganze Überfluss im Internet in meiner Generation zum Verlust von Leidenschaft führt. Ich muss nicht in den Plattenladen laufen, um mir das Album meines Lieblingskünstlers zu kaufen, nicht ins Kino gehen, um den neusten Blockbuster zu sehen – denn alles ist meist sofort auf den Streamingdiensten abrufbar. Und wer in Berlin nach Liebe oder etwas in der Art sucht, dem stehen mehr Datingapps zur Verfügung, als ich hier aufzählen könnte. Alles ist theoretisch nur einen Klick oder Swipe entfernt.
Dann ist die Me-Time auch schon vorbei und der soziale Teil des Abends beginnt. Brettspiele und Puzzles liegen auf den Tischen verteilt, schnell bilden sich Grüppchen.
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Mit einem Amerikaner und einem Kanadier in meinem Alter spiele ich ein Kartenspiel für Kinder. Wir sprechen über ihre Heimat, das schöne Wetter in Kalifornien und die deutsche Bürokratie. Weil wir uns weder Fotos noch Einträge auf Navigationsapps zeigen können, beschreiben wir, woran wir uns erinnern. Sie geben mir Tipps, falls ich je in San Francisco oder Toronto sein sollte. Auf Zetteln tauschen wir Nummern aus und beschließen, demnächst mal gemeinsam Bouldern zu gehen.
Ein wenig wirkt unser Kennenlernen wie der erste Grundschultag: offen, neugierig und unschuldig. Auch deshalb merken wir nicht, dass hinter uns die ersten ihre Handys schon wieder aus dem „Hotel“ holen. Irgendwann werden wir dann doch schwach, befreien unsere magischen kleinen Kästchen. Und schon nach einer Minute werde ich rückfällig und schaue drauf. Anders würde ich schließlich nicht den Weg nach Hause finden.