Dort, wo das Drogen-Elend seine Nische gefunden hat, gilt Tempo 30. Autofahrer sollen tagsüber auf der Kreuzberger Gneisenaustraße langsam machen, hier kommen laufend Kinder vorbei – auf dem Weg zum Leibniz-Gymnasium oder zur Reinhardswald-Grundschule. Auch der Eingang zum U-Bahnhof ist gleich in der Nähe.

Vorsicht, bitte: Auf der Gneisenaustraße gilt östlich der Mittenwalder Straße tagsüber Tempo 30. Zwei Schulen sind in der Nähe.

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Wovor die Kinder niemand warnt: In der Grünanlage auf dem Mittelstreifen, nur ein paar Meter hinter dem Verkehrsschild, setzen sich offenbar Junkies regelmäßig ihren Schuss. Davon zeugt ein Baum, der übersät ist mit Einwegspritzen, die die Drogenabhängigen anscheinend in die Rinde gesteckt haben.

Annähernd 50 Spritzen stecken in der Rinde dieses Baumes auf dem grünen Mittelstreifen der Kreuzberger Gneisenaustraße.

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Vom „Drogen-Baum von Berlin“ spricht die „Bild“-Zeitung, die am Montag zuerst über den Druckraum im Grünen berichtete. Annähernd 50 Spritzen steckten auch am Abend im Stamm, als der Tagesspiegel den Ort in Augenschein nahm.

In dem kleinen Gebüsch zeigt sich ein Bild der Verwahrlosung. Rund um den Baum liegen aufgerissene Spritzenverpackungen, dazu jede Menge leerer Ampullen für Kochsalzlösung, die „für den Drogenkonsum konzipiert“ wurden, wie der Konstanzer Hersteller auf seiner Website schreibt.

„Rauchen ist tödlich“, steht auf einem leeren Tabakbeutel, daneben liegt eine ausgetrunkene Flasche Wodka und zwischen Laub und Ästen weitere Spritzen sowie Einweglöffel aus Blech, mit denen Heroin, Crack oder andere Drogen aufgekocht werden können.

Auf einem Tupfer sind noch leuchtend rote Blutflecken zu sehen, eine alte Jeans ist halb im Boden verscharrt. Aus unerfindlichen Gründen liegt ein Stapel Fahrradreifen herum, angelehnt an einen aufgerissenen Karton mit Drucker-Toner.

Touristen wollen zum Bergmannkiez – und treffen auf Junkies

Der grüne Mittelstreifen auf der West-Ost-Achse von Kreuzberg nach Neukölln ist lange schon ungepflegt. Dabei ist der Marheinekeplatz mit seiner Markthalle und dem Flohmarkt am Wochenende nicht weit. Eigentlich handelt es sich um den beinahe bürgerlichen, weitgehend gentrifizierten Teil Kreuzbergs, fernab der Hotspots Kottbusser Tor und Görlitzer Park.

Der wird „61“ genannt, nach dem alten Postleitzahlbezirk, im Gegensatz zu „36“. Viele Familien leben hier im alternativen Szeneviertel, am Wochenende steigen auch Touristen an der Gneisenaustraße aus der U-Bahn, um den Bergmannkiez zu besuchen. Im Bahnhof selbst treffen sie dabei nicht selten auf Junkies.

Schüler, Anwohner, Touristen steigen an der Gneisenaustraße aus der U7. Der Spritzen-Baum befindet sich keine 50 Meter entfernt in der Grünanlage.

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„Das Grünflächenamt unternimmt nichts, um den Ort für Drogenkonsumenten unattraktiv zu machen“, zitiert die „Bild“ eine Anwohnerin. „Es wurde seit Jahren keine Instandhaltung des Grünstreifens unternommen, hinter jedem Busch wird gespritzt. Gegenüber der Reinhardswald-Grundschule gibt es das gleiche Problem.“

Wie die „Bild“ weiter berichtet, äußerte sich die Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann nur recht allgemein zum Drogenproblem entlang der Gneisenaustraße. Der Bezirk sei „hier im Rahmen unserer Möglichkeiten und Zuständigkeiten übermäßig aktiv“, ließ sie demnach mitteilen.

„Viele Kieze in Kreuzberg sind von den Folgen von Obdachlosigkeit und Drogenkonsum betroffen“, erklärte die Grünen-Politikerin jedoch auch. „Es braucht daher dringend eine landesweite Strategie mit pragmatischen Ansätzen im Umgang mit Sucht und ihren Folgeerscheinungen.“

Auf dem Boden: Spritzenpackungen und leere Ampullen für Kochsalzlösung, für den Drogenkonsum konfektioniert.

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Hier hat jemand Heroin, Crack oder andere Drogen aufgekocht. Die Einweglöffel liegen noch auf dem Boden.

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In diesem Zusammenhang habe Herrmann auch auf eine monatliche Runde bei Umweltsenatorin Ute Bonde (CDU) unter dem Titel „Lenkungsgremium für mehr Sicherheit und Sauberkeit im öffentlichen Raum und zur Verhinderung von Sucht und Obdachlosigkeit“ verwiesen, heißt es weiter in der „Bild“-Zeitung. Auf die Frage, warum der Bezirk das Grün auf dem Mittelstreifen nicht einfach zurückschneide, sei die Bezirksbürgermeisterin hingegen nicht eingegangen.

Ein Grünstreifen, um den sich niemand kümmert

Dabei fanden erst zu Jahresbeginn nur wenige Meter westlich des Spritzen-Baums umfangreiche Grünarbeiten statt. Die BVG ließ Ende Februar mehrere, teils mehr als hundert Jahre alte Platanen und Linden fällen, weil sie einerseits krank waren und andererseits der Sanierung der Tunneldecke über dem U-Bahnhof im Wege standen.

Wen schert’s? Das Grün rund um die Stümpfe der gefällten Bäume wuchert inzwischen bis auf die Straße.

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Ein halbes Jahr später ist von Tunnelarbeiten noch lange nichts zu sehen. Dafür ist an den Baumstümpfen schon wieder Blattwerk gewachsen, das Grün wuchert derart stark, dass es bereits über dem Asphalt hängt. Autos, die die Kreuzung überqueren wollen, müssen sich wegen der Sichtbehinderung in Bodennähe mitunter so weit vortasten, dass ihre Motorhaube in die Fahrbahn der Gneisenaustraße ragt und der fließende Verkehr ihnen ausweichen muss.

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Dabei verhält es sich nicht anders als beim Spritzen-Baum im Gebüsch: Um den grünen Mittelstreifen der Gneisenaustraße scheint sich einfach niemand zu kümmern.