Mit einer erratischen, dem Isolationismus zuneigenden Regierung in Washington und einer strategisch konfusen Führung in Brüssel macht der freie Westen in Sachen Verteidigung der Ukraine keine gute Figur. So schwach, wie zu sein es sich einredet, ist Europa aber nicht.

Für höhere Aufgaben vorgesehen? – Die chinesische Marine zeigt in Hongkong Präsenz. Für höhere Aufgaben vorgesehen? – Die chinesische Marine zeigt in Hongkong Präsenz.

Sawayasu Tsuji / Getty

Der russische Präsident Putin droht unterschwellig mit einem Angriff auf östliche Nato-Länder, und Experten, die davon ausgehen, dass er solche Pläne ernsthaft verfolgt, verorten den Zeithorizont dafür bei zwischen ein und neun Jahren. Unlängst brachte der Nato-Generalsekretär Mark Rutte die Möglichkeit zur Sprache, dass China für einen bevorstehenden Angriff auf Taiwan den Kreml darum ersuchen könnte, die Nato in Europa «zu beschäftigen».

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Wenn an diesem Szenario etwas dran ist, müsste ein Angriff auf Taiwan mit Einbindung Putins bald stattfinden, denn je mehr Zeit vergeht, desto mehr erodieren die Grundlagen für ein solches gemeinsames Vorgehen. Die nunmehr einsetzende ernsthafte Aufrüstung Europas wird einen militärischen Angriff Russlands auf die Nato zunehmend sinnlos machen.

Einsicht in die Bedrohung

Eine massive Erhöhung der nationalen Rüstungsbudgets, wie Donald Trump sie forderte, wurde von den Nato-Mitgliedern lange als ökonomisch untragbar bezeichnet. Nachdem sie lange Zeit von einer wirtschaftlichen Katastrophe gesprochen hatten, falls ihre durchschnittlichen Militärausgaben von 1,9 Prozent (2024) auf 3,5 Prozent steigen, gaben sie nunmehr die Zusage zu 5 Prozent.

Trump, der erst kürzlich die Forderung von 5 Prozent erhob, erfüllt selber nicht diesen Anspruch. Er glaubte wohl ursprünglich, seiner aggressiven Verhandlungstaktik entsprechend, dass man sich bei dieser Vorgabe auf 3,5 Prozent einigen würde. Es kam anders, wobei keineswegs Washington ausschlaggebend war. Ursache für die üppige Erhöhung der Verteidigungshaushalte war die Einsicht in die Bedrohung, die von Putin ausgeht. Was wiederum belegt, dass die russische Strategie, Europa mit dem Einmarsch in die Ukraine einseitig ein neues Sicherheitssystem aufzuzwingen, kontraproduktiv ist.

Der mit der Nachrüstung verbundene Technologie- und Investitionsschub wird gerne ausser acht gelassen.

Die chinesische Interessenlage in Bezug auf Taiwan ist klar. Wie Putin auf Pekings Bitte nach militärischer Unterstützung reagieren würde, ist ungewiss. Auf der einen Seite ist er für seinen Krieg in der Ukraine sehr stark von chinesischen Dual-Use-Gütern abhängig. An die 70 Prozent der in Russland verarbeiteten Drohnen- und Raketenbestandteile stammen aus China, das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern hat sich seit dem Beginn der Invasion verdoppelt. Bei einem Feldzug Pekings gegen Taiwan würden die chinesischen Lieferungen jedoch wegen Eigenbedarf versiegen oder womöglich ganz aufhören. Dies kann nicht im Interesse des Kremls liegen.

Auf der anderen Seite ist Peking mit einem erheblichen Anteil an der Abnahme der mit Sanktionen belegten Rohstoffe beteiligt und füllt damit Putins Kriegskasse. Eine Ablehnung der Bitte wäre daher schwierig. Dennoch kann sich Russland einen mit Waffen ausgetragenen Mehrfrontenkrieg aus politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gründen nicht leisten.

Putin ist aussenpolitisch bereits jetzt isoliert, was die für Russland unvorteilhaften Entwicklungen in Syrien, Iran oder Armenien belegen. Die russischen Wirtschaftsaussichten sind negativ, die Entwicklung des Bruttoinlandproduktes (BIP) stottert, die Inflation ist zweistellig, neben der Rüstungsindustrie, deren Investitionsvolumen 2025 bereits wieder abnimmt, gibt es keine Entwicklung in der zivilen Produktion. Das russische Budgetdefizit steigt ohne jede Hoffnung, dass die Mehrausgaben durch Kredite zu decken sind. Die Sozialleistungen für die Bevölkerung sinken. Verwendbare Reserven dürften Ende dieses Jahres ausgehen.

Unterschätzte Schlagkraft

Militärisch kommen die Russen in der Ukraine trotz Vorteilen und Übergewichten nicht erwartungsgemäss voran. Die Ideologie und Propaganda von der bärenstarken, unbesiegbaren russischen Armee ist widerlegt. Putin vermag seit über drei Jahren die nach allen Kriterien kleinere Ukraine nicht zu bezwingen, wie soll er es dann mit dem Nordatlantikpakt aufnehmen, der 32 Länder umfasst?

Die unablässigen Sorgen und Bedenken, Europa sei auf einen möglichen russischen Angriff nicht vorbereitet und deshalb unterlegen, gehen an den wirtschaftlichen und militärischen Wirklichkeiten vorbei. Das EU-BIP ist 2024 achtmal so gross wie jenes von Russland. Die Länder der EU geben doppelt so viel für die Verteidigung aus wie Russland. Die Militärausgaben Europas haben gegenwärtig einen Anteil von 1,9 Prozent an der Gesamtsumme der nationalen Budgets, während sie in Russland 7 Prozent ausmachen, und dennoch betragen die europäischen Verteidigungsausgaben insgesamt das Zweifache der russischen.

Allerdings entspricht die derzeitige Schlagkraft Europas nicht der zahlenmässig zuordenbaren Stärke. Die Vielzahl der verwendeten Waffen, die teilweise miteinander nicht kompatibel sind, lässt die europäische militärische Schlagkraft sinken. Das Patchwork an Ausrüstung macht die Sache zudem teurer.

Es gibt einhundertfünfzig verschiedene Waffensysteme mit unterschiedlicher Munition. Jedes Land setzt auf Eigenherstellung. Dadurch werden die Serien klein und teuer. Zudem bezieht Europa seine Militärausrüstung zu 80 Prozent aus den USA, was der europäischen Wirtschaft schadet, und mit dem erratischen Trump im Weissen Haus kann man sich auf Nachschub nicht mehr ganz verlassen. Erschwerend kommt bei einigen amerikanischen Waffen, zum Beispiel Stealth-Kampfflugzeugen des Typs F-35, hinzu, dass die Käufer der fortschrittlichsten Technologie nicht über die vollständige Autonomie verfügen, die Geräte so einzusetzen, wie sie wollen. Sie bleiben in ihrem Handeln den Vorgaben und Interessen der USA ausgeliefert.

Die jahrelang vernachlässigten Investitionen in die Rüstungsindustrie machen Europa schwächer, als man aus den statistischen Angaben herauslesen kann. Dennoch ist eine Überlegenheit gegenüber Russland vorhanden, und die Nachrüstung wird diese weiter erhöhen. Bei der Schwäche der Rüstungsproduktion sollten die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg nicht vergessen werden.

Zuerst Grossbritannien und später die USA hatten in kürzester Frist die Rüstungswirtschaft hochgefahren. Angesichts der wirtschaftlichen Übermacht gegenüber Russland dürfte es Europa nicht schwerfallen, die Produktion schnell zu steigern. Die Ukraine selber konnte unter erschwerten Bedingungen die Drohnenproduktion bis jetzt auf das Fünffache erhöhen und nimmt Kurs auf das Fünfundzwanzigfache.

Die weitverbreiteten Bedenken, der allgemeine Lebensstandard und die zivile Wirtschaft litten unter erhöhten Verteidigungsausgaben, verkennen die Bedeutung der Grösse des Bruttoinlandprodukts. Der damit verbundene Technologie- und Investitionsschub wird ebenfalls ausser acht gelassen. Die aufgenommenen Kredite werden durch Mehrproduktion rückzahlbar, und die Wettbewerbsfähigkeit steigt.

Verdeckter Krieg

Der militärische Vergleich zu Russland fällt schon unter den heutigen Umständen zugunsten Europas aus. Die mobilisierbaren Kräfte sind dreieinhalb Mal so gross wie jene Russlands. Die Truppenstärke ist schon jetzt höher. Mit Ausnahme von Atomwaffen hat die EU gegenwärtig ein Übergewicht an Militärgerät: zweifach bei den Flugzeugen, dreifach bei Panzern, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Was das Ungleichgewicht bei den Atomwaffen angeht, soll an Chruschtschows Einlassung zu dieser Frage erinnert werden: «Mir genügt es, einmal den Feind vernichten zu können.» Für eine wirksame Abschreckung, so wie sie sich Nordkorea angeeignet hat, reicht es. Für einen erfolgreichen konventionellen Angriff wird geschätzt, dass der Angreifer mindestens ein dreifaches Übergewicht haben muss, über das Russland nicht verfügt.

Ein militärischer Überfall auf die Nato wäre für Russland schon jetzt Selbstmord. Eine Erfüllung des chinesischen Ansinnens, die Nato in Europa mit einem Angriff zu «beschäftigen», liegt ausserhalb der tatsächlichen Möglichkeiten Putins. Dies schliesst allerdings nicht aus, dass Putin mit dem chinesischen Wunsch flexibel umgeht.

Verweigern muss er ein klassisches militärisches Vorgehen. Dies betrifft aber nicht eine weitere Mobilisierung im hybriden Krieg, der schon jetzt im Gange ist und weiter verstärkt werden kann. Auf diesem Gebiet hat Putin einen erheblichen Vorsprung, und er kann als ehemaliger sowjetischer KGB-Agent auf eine lange Tradition und Erfahrung bauen. In diesem Punkt kann Wladimir Putin Xi Jinping entgegenkommen, ohne das Risiko eines direkten Krieges einzugehen.

Janos I. Szirtes ist Politikwissenschafter und lebt in Budapest.