Fast wäre die Geschichte von Alexej Moskaljow und seiner Tochter Mascha glücklich ausgegangen – mit ihrer Ausreise nach Deutschland. Alles war geplant und vorbereitet. Doch dann ließ die Bundesregierung die beiden im Stich.

Der alleinerziehende Vater und Ladenbesitzer aus Russland war vor zwei Jahren international zu einer Symbolfigur der Repressionen in Putins Diktatur geworden. 2023 hatte er eine Zeichnung seiner damals 13-jährigen Tochter im russischen Netzwerk Odnoklassniki gepostet. Darauf zu sehen ist eine Mutter mit Kind, unter einer ukrainischen Flagge stehend. Auf die beiden stürzen Raketen von einem Hügel aus, der mit einer russischen Fahne markiert ist. „Nein zum Krieg“ steht auf dem Blatt geschrieben. Dafür kam Moskaljow für zwei Jahre ins Gefängnis, wurde mehrfach brutal verprügelt und damit bedroht, seine Tochter nie wiederzusehen. Weltweit berichteten zahlreiche Medien über den Fall, darunter Le Monde, die BBC, das Wall Street Journal, der Spiegel und auch DIE ZEIT.

Im vergangenen Herbst kam Moskaljow frei. „Nur wenige Tage nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis tauchten wieder Polizisten vor unserer Wohnung auf“, erinnert sich Moskaljow im Telefonat mit der ZEIT. Gemeinsam mit seiner Tochter trat der 57-Jährige die Flucht an, schaffte es über die Grenze in ein Nachbarland Russlands. Ihr Ziel: Berlin. Doch eine Entscheidung des CSU-Innenministers Alexander Dobrindt macht dieses Ziel für sie vorerst unerreichbar.

Alexej Moskaljow während seines Prozesses im März 2023 © AP/​dpa

Seinen Aufenthaltsort will Moskaljow aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich machen. Nur so viel, dass das Land für russische Oppositionelle als unsicher gilt. Schon mehrfach hätten russische Geheimdienste dort flüchtige Regimekritiker entführt und ins Land zurückgeholt.

Deshalb sollte es für Moskaljow eigentlich weiter nach Deutschland gehen. Möglich war das wegen eines humanitären Aufnahmeprogramms der Bundesregierung nach Paragraf 22, Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes. Dieses gilt „für Personen, die aufgrund ihres Einsatzes gegen den Krieg, für Demokratie und Menschenrechte besonders gefährdet sind“, wie es auf der Webseite des Innenministeriums steht.

© Lea Dohle

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Im Frühjahr habe Moskaljow die Zusage vom Berliner Außenministerium bekommen – eine Voraussetzung, um die Einreisepapiere in einer deutschen Botschaft zu beantragen. Ein Prozess, der Monate dauert. Tochter Mascha habe angefangen, Deutsch zu lernen. Eine NGO hat sogar eine Wohnung in Berlin angemietet. Doch seit Wochen bewegt sich nichts mehr.

Hunderte Regimegegner sind betroffen

Der Grund: Vor Kurzem hat das Innenministerium alle in Deutschland geltenden humanitären Aufnahmeprogramme vorläufig stoppen lassen. Über dem Text, der die Hilfsbereitschaft Deutschlands auf der Seite des Innenministeriums preist, prangt nun eine kurze Mitteilung: „Die humanitären Aufnahmeverfahren sind derzeit ausgesetzt.“

„Seitdem sitzen wir hier fest. Nach Russland kann und will ich nicht zurück und in meinem Aufenthaltsland kann ich keinen legalen Status bekommen und keine Existenz aufbauen“, sagt Moskaljow. 

Ähnlich wie ihm geht es derzeit Hunderten Menschen aus Russland und etlichen Personen aus Belarus, die zum Zeitpunkt des Aufnahmestopps mitten im Visaprozess steckten oder bereits feste Zusagen aus Deutschland hatten. Einige der Wartenden befinden sich weiterhin in Russland. Unter ihnen sind Kriegsgegner, Aktivistinnen, Journalisten, Menschenrechtlerinnen und Kooperationspartner deutscher Stiftungen. Hinzu kommen wohl Tausende, die den Aufnahmeprozess noch nicht begonnen hatten. 

Die Kritik seitens Experten und NGOs am deutschen Aufnahmestopp ist einhellig. Für regimekritische Menschen in Russland und Belarus sei das ein fatales Zeichen, sagte jüngst der Russlandexperte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik der Morgenpost. Die Organisation Reporter ohne Grenzen wiederum kritisiert in einer Stellungnahme die Bundesregierung, die für „bedrohte Journalistinnen und Journalisten eine lebensrettende Tür“ schließe. Mindestens 16 NGOs aus Deutschland fordern mittlerweile die Wiederaufnahme des Programms.

Falsche Hoffnungen gemacht

Das Innenministerium in Berlin begründet den Stopp mit einer Passage im Koalitionsvertrag. Die Parteien hätten darin vereinbart, freiwillige Bundesaufnahmeprogramme „so weit wie möglich zu beenden“, schreibt ein Sprecher auf Anfrage der ZEIT. Derzeit werde geprüft, wie dies im Hinblick auf die verschiedenen Programme umgesetzt werden könne. Im Koalitionsvertrag (PDF) findet sich der Aufnahmestopp auf Seite 93 beim Thema „Migration und Integration“ – als eine Maßnahme, die helfen soll, Zuwanderung zu begrenzen.

Aus Sicht von NGOs und Fluchthelfern jedoch ist das absurd. „Die Zahlen sind so gering, dass das migrationspolitisch überhaupt keinen Sinn ergibt“, sagt Olga Smirnowa*, Koordinatorin der Organisation Intransit, die politisch Verfolgten dabei hilft, aus Russland zu entkommen und Papiere für den Antrag auf ein humanitäres Visum vorzubereiten. Insgesamt sollen in den vergangenen drei Jahren rund 2.500 russische und 400 belarussische Bürgerinnen und Bürger humanitäre Einreisevisa für Deutschland erhalten haben. Diese Zahlen bestätigt auch das Innenministerium auf Anfrage.

Dass der Stopp tatsächlich kommt, hatten deshalb wohl auch zahlreiche Regierungsbeamte nicht erwartet. „Uns wurde im Außenministerium lange versichert, dass die Aufnahmeprogramme nach Paragraf 22 Satz 2 nicht von den Plänen der Koalition betroffen sein werden“, sagt Smirnowa. Schließlich handele es sich nicht um ein Massenprogramm. Sowohl das Außen- als auch das Innenministerium würden jeden Einzelfall prüfen und könnten ein Veto einlegen. 

Kaum andere Chancen auf Schutz

Andere Wege, Schutz in Europa zu bekommen, haben die meisten Schutzsuchenden aus Russland kaum. „Es gibt in der russischen Nachbarschaft kein Land, das russischen Staatsbürgern Asyl gewährt“, erklärt Menschenrechtlerin Smirnowa. Auch Russlands EU-Nachbarn wie Finnland oder Polen oder auch Estland weisen russische Staatsbürger in den allermeisten Fällen ab. Der finnische Migrationsdienst Migri etwa hat im Zeitraum zwischen Oktober 2024 und März 2025 nur 117 russischen Staatsbürgern Asyl gewährt, bei fast 600 bearbeiteten Anträgen. Im Falle einer Ablehnung werden die Betroffenen nach Russland ausgewiesen. 

Estland hat jüngst den Antrag einer Frau aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien abgelehnt. Sie soll mehrere Tage in einem russischen Polizeirevier gefoltert worden sein, nachdem sie auf einer Beerdigung eines in der Ukraine gefallenen Kämpfers aus Tschetschenien den Krieg kritisiert hatte. Die estnischen Behörden befanden jedoch, dass ihr in Russland keine unmittelbare Gefahr drohe. Die exiltschetschenische Menschenrechtsorganisation Waifond kritisierte die estnische Entscheidung als unmenschlich.

Neben den ungleich besseren Aufnahmechancen hatte das deutsche Programm auch einen weiteren entscheidenden Vorteil: Deutschland ist neben Frankreich das einzige EU-Land, das Menschen ohne international gültige Reisepapiere sogenannte Ersatzpässe ausstellt. Mit einem solchen Pass kann eine fliehende Person über ein Drittland nach Deutschland einreisen. Wichtig ist das, weil russische Sicherheitsbehörden meistens die Reisepässe von Angeklagten konfiszieren.

Wie Russland seine Kritiker verfolgt

Für den 21-jährigen Russen Ilfat Garejew kam genau aus diesem Grund nur das deutsche Aufnahmeprogramm infrage. Seinen Reisepass hat der russische Geheimdienst weggenommen. In Russland läuft gegen den Kriegsgegner ein Verfahren wegen sogenannter „Rechtfertigung von Terrorismus“, ein Straftatbestand, den die russische Justiz oft missbraucht, um Kritiker zu verfolgen. Ihm drohen bis zu sieben Jahre Haft.

Im vergangenen Jahr konnte sich Garejew nach Armenien absetzen. Er beschreibt sich als selbst als linken Aktivisten. Nach Kriegsbeginn habe er versucht, im Kleinen etwas gegen Putins Regime zu unternehmen, erzählt Garejew gegenüber der ZEIT. 

Er sprühte Graffiti gegen den Krieg, riss Werbeplakate der Armee herunter, rief in Postings und auch offline junge Männer dazu auf, sich der Mobilisierung zu widersetzen. Bis eines Tages bewaffnete Männer seine Wohnung stürmten. Sie beschlagnahmten Computer, Handy und den Reisepass. „Ich hatte Glück, weil sie mich gegen eine Meldeverpflichtung wieder gehen ließen“, erklärt Garejew. So habe er entkommen können. Kurze Zeit später setzte ihn das Justizministerium auf die sogenannte Liste von Terroristen und Extremisten. „In Russland darf ich praktisch nicht mehr existieren, ich darf keine Bankkonten eröffnen, keine SIM-Karte kaufen, hab keinen Pass mehr. Armenien wiederum war das einzige Land, wo ich mit einem gewöhnlichen russischen Ausweis einreisen konnte“, fügt der Russe hinzu.

Repressionen in Russland

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In Armenien hatte er anschließend ein Visum für Deutschland beantragt, bekam die Bewilligung und sogar schon alle notwendigen Reisepapiere. Sein Plan war, Deutsch zu lernen und sich an der Humboldt-Universität in Berlin einzuschreiben. Die Ausreise scheiterte jedoch im letzten Moment. Weil Armenien formal mit Russland verbündet ist und zwischen den beiden Staaten ein Auslieferungsvertrag besteht, blockierten armenische Behörden fast ein Jahr lang seine Ausreise. „Diese Frist endete erst am 4. August. Während dieser Zeit ist mein Visum abgelaufen.“ Und ein neues, so heißt es von den deutschen Behörden jetzt, könne er derzeit nicht bekommen. „Deshalb bin ich in Armenien gefangen“, sagt Garejew. Seine einzige Hoffnung sei, dass Deutschland den „absurden Aufnahmestopp“ wieder zurücknimmt. 

*Der Name ist der Redaktion bekannt. Weil die Person jedoch
aktuell Schutzsuchenden aus Russland bei der Flucht hilft, hat sie um
eine Anonymisierung gebeten.