Rettung durch Handaufzucht?
Doch wäre eine Aufzucht durch den Menschen – eine sogenannte Handaufzucht – sinnvoll gewesen? Möglich schon, aber sinnvoll nicht, sagt Wuppertals Zoodirektor Arne Lawrenz. In seinem Zoo lebt ein Amurtiger-Pärchen mit frischem Nachwuchs. „Eine Handaufzucht kann gutgehen, aber geht häufig auch schief“, erklärt Lawrenz.
Zoodirektor: Tiere zeigen Fehlverhalten
Das Problem sei bei dieser Aufzuchtsmethode, dass die Tiere – ob Tiger oder Affe – auf den Menschen geprägt werden. „Sie lassen sich dann nicht mehr mit anderen Tieren integrieren. Die Tiere haben ihr Leben lang Probleme, weil sie auf den Menschen und nicht das andere Tier fokussiert sind.“
Zeigten solche Tier oder eben Tiger gegenüber ihrem Artgenossen Fehlverhalten, könnten sie von diesen verletzt werden. Er nennt das Beispiel von Bonoboaffe Bili aus seinem Zoo in Wuppertal. „Er leidet unter der Handaufzucht, weil er sich falsch verhält.“ Von der Gruppe werde der Affe nicht akzeptiert, werde gemobbt und gebissen.
Amurtiger
Amurtiger, auch Sibirische Tiger genannt, sind die größten Katzen der Welt. Sie leben vor allem im Grenzgebiet zwischen dem Osten Russlands und dem Nordosten Chinas. Dort halten sie mit ihrem dicken Fell Temperaturen von bis zu minus 45 Grad aus. Sie werden bedroht durch Lebensraumzerstörung, Bejagung ihrer natürlichen Beute und Wilderei. Körperteilen von Tigern wird etwa in der chinesischen Heilmedizin eine heilende Wirkung zugesprochen. Der Gesamtbestand freilebender Tiere wird auf gut 700 Exemplare geschätzt – Ende des 19. Jahrhunderts soll es laut WWF 100.000 Tiere gegeben haben.
Handaufzuchten nur bei sehr gefährdeten Tierarten
Dass eine Handaufzucht aber auch funktionieren kann, zeigt Lawrenz am Beispiel einer Handaufzucht vor 20 Jahren bei einem Tiger. „Wir haben uns da als Menschen sehr zurückgenommen. Das war sehr, sehr kompliziert.“ Heutzutage sei es das Ziel, den Muttertieren möglichst lange Zeit zu geben, um ihre Jungen anzunehmen.
Das riskieren wir heute nicht mehr aus Tierwohlgründen.
Arne Lawrenz
Direktor des Zoos in Wuppertal
Handaufzuchten gebe es im Vergleich zu vor 20 Jahren nur noch selten, so Lawrenz. „Das riskieren wir heute nicht mehr aus Tierwohlgründen“, betont der Zoodirektor und Tierarzt. Diese Aufzuchtspraxis gebe es in allen Zoos nur noch bei sehr bedrohten Tierarten, bei denen es auf jedes einzelne Tier ankomme. Das könne genauso in freier Natur vorkommen, nicht nur in Gefangenschaft.
Einschläfern, um Leiden zu verhindern
Dass gerade junge Tigermütter, die das erste Mal Nachwuchs bekommen, ihre Kinder nicht annehmen, komme öfters vor, sagt Lawrenz. Das passiere, wenn Tigermütter instinktiv merkten, dass sie nicht den kompletten Nachwuchs durchbringen.
Im Zoo Wuppertal habe es einen ähnlichen Vorfall bei den Amurtigern gegeben, so Lawrenz. Dort habe das Amurtigerweibchen mehrere Jungtiere zur Welt gebracht. Zwei davon hätten überlebt, ein drittes sei tot gefunden worden, ein viertes habe die Tigermutter vermutlich gefressen. „Das ist ein völlig normales Verhalten. Es ist in der Natur so, es ist bei uns so.“ Nicht angenommene Jungtiere einzuschläfern, sei aus Sicht von Lawrenz „richtiges und korrektes Verhalten.“
Tierpark Chemnitz: Sorgfältige Abwägung mit Tierärzten
Nicht ganz so eindeutig zum Thema Handaufzucht positioniert sich der Tierpark Chemnitz. „Ob eine Handaufzucht sinnvoll ist, hängt von vielen Faktoren ab“, teilt die Stadt Chemnitz als Betreiberin auf Anfrage von MDR SACHSEN mit. Demnach kann diese Aufzuchtsmethode eine wichtige Rolle bei sehr gefährdeten Tieren spielen. Das sei bei den Amurtigern in der Regel nicht der Fall, heißt es. Für diese Tierart gebe es ein europaweites Zuchtprogramm mit einer stabilen Population.
Ob eine Handaufzucht sinnvoll ist, hängt von vielen Faktoren ab.
Stadt Chemnitz
Bei den Amurtigern in Chemnitz gab es städtischen Angaben zufolge keine vergleichbare Situation wie in Leipzig. Es habe seltene Fälle bei anderen Tierarten gegeben, wo Muttertiere ihre Jungtiere nicht annahmen. „In diesen Fällen wird sehr sorgfältig mit der Tierärztin und den Zuchtbuchführern abgewogen, ob eine Handaufzucht sinnvoll und im Sinne des Tierwohls ist“, heißt es.