Jenseits der 70, rund 50 Jahre im Filmgeschäft, mit etwa ebenso vielen Auszeichnungen gewürdigt: der perfekte Zeitpunkt für eine Autobiografie. Tatsächlich jedoch spielt Dominik Graf, als Regisseur mit allen wichtigen deutschen Film- und Fernsehpreisen geehrt (und das meist mehrfach), in seinem eigenen Buch bloß eine Nebenrolle.

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Natürlich geht es auch ums Inszenieren, aber gewidmet hat er das Werk der Filmschauspielerei; ins Kino gehen die Menschen schließlich seit 100 Jahren vor allem wegen der Stars. Trotzdem ist „Sein oder Spielen“ keine Aufzählung zahlloser Berühmtheiten, sondern eine Liebeserklärung an den Film; und darüber hinaus dank der in jedem Absatz spürbaren Leidenschaft ein Lesestoff, der ähnlich fesselt wie ein guter Roman.

Dominik Graf: „Sein oder Spielen. Über Filmschauspielerei“, 391 Seiten, 90 Abb., 28 Euro, C. H. Beck. Foto: C. H. Beck

Natürlich ist es naheliegend, dass sich ein Filmemacher mit der Schauspielerei beschäftigt, aber Graf war schon als Kind fasziniert von diesem Beruf, dem beide Eltern nachgegangen sind; sein 1966 verstorbener Vater, Robert Graf, hat in vielen Filmen mitgewirkt. Schon in jungen Jahren (und später erst recht) waren für den Sohn, wie er schreibt, „Beruf und Leben, Spiel und Wirklichkeit unauflöslich miteinander verquickt. Bis heute bei mir ein Kuddelmuddel.“ Das Buch befasst sich mit den „verschiedenen Quellen der Kreativität im Spiel“, es geht um „triumphale schauspielerische Ereignisse im Weltkino“ sowie um „den Zauber und den Schauder, den Schau-Spiel“ bei ihm erzeugen könne.

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Die Ausführungen wirken wie die Vorlesungen eines beliebten Dozenten, der genau weiß, was sein Publikum von ihm erwartet: Lehrstoff bleibt umso besser haften, wenn er anschaulich und unterhaltsam dargeboten wird. Was Graf, oftmals im Dialog mit der Leserschaft, zu bieten hat, ist nicht weniger als eine Reise durch die Filmgeschichte; zumindest jenes Teils, der in den letzten gut 70 Jahren entstanden ist (leider gibt es weder Namens- noch Titelregister).

Weil er sich herauspickt hat, was ihn selbst am meisten beeindruckt und begeistert hat, ist „Sein oder Spielen“ auf gewisse Weise doch biografisch; aber das gilt zumindest für jenen Teil der Leserschaft, der seine Kinosozialisation wie Graf mit den Filmen des „New Hollywood“ in den 70ern erlebt hat, nicht minder.

Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Spielstile macht naturgemäß noch mehr Spaß, wenn man die erwähnten Filme kennt oder gar die entsprechenden Szenen vor Augen hat. Andererseits beschreibt Graf diese Momente so anschaulich, dass ihre Kenntnis nicht vonnöten ist, um ihm folgen zu können, zumal sie oft durch Fotos illustriert werden (allerdings nur in grobkörnigem Schwarzweiß).

Selbstverständlich spielen auch seine eigenen Filme und deren Mitwirkende eine große Rolle, allen voran die Arbeit mit Götz George unter anderem an dem noch heute packenden Thriller „Die Katze“ (1988).

Dabei geht der Regisseur freimütig, zuweilen sympathisch selbstironisch und mitunter überraschend harsch mit sich selbst ins Gericht, wenn er beispielsweise bekennt, dass er auch mal „Regie-Eitelkeit“ und „Bilder-Sucht“ die Oberhand gewinnen ließ oder aus verletzten Gefühlen – „zu blöd, zu stolz“ – die formidable Darbietung einer Schauspielerin „zerschnitten“ hat.

Die gelegentlichen Abrechnungen erfolgen allerdings nicht nur in eigener Sache. Selbst bewunderte Schauspieler konnten auch mal eine „Landplage“ sein. Menschen, die das Glück haben, ihre Passion für den Film zum Beruf machen zu dürfen, bezeichnet er durchgehend als „die Kritiker“, wobei durchaus ein gewisser abwertender Unterton mitschwingt.

„Inkompetente Funktionäre“ bekommen ebenso ihr Fett weg, wobei der Begriff neben unprofessionellen Produzenten auch TV-Redaktionen einschließt, die nach Ansicht Grafs, sinngemäß zusammengefasst, alles tun, um gutes, kreatives und überraschendes Fernsehen zu verhindern.

Anekdoten hat er ebenfalls zu bieten, zum Teil desavouierend, aber immerhin höflich verpackt. Wie ein von den eigenen Erinnerungen hin- und mitgerissener Erzähler unterbricht Graf seine Ausführungen regelmäßig durch Exkurse, die aber nie wie überflüssige Abschweifungen wirken.

Von der Synchronisation über Schauspielschulen, die aus begabten Anfängerinnen „verkrampfte Hühner“ machten, bis hin zur Erotik gibt es praktisch keinen Aspekt des Metiers, der nicht zu Sprache kommt. Über allem steht jedoch die Schauspielerei, schließlich trage dieser Teil einer Inszenierung die persönlichste Handschrift eines Regisseurs. 

Dominik Graf

Dominik Graf ist einer der kompromisslosesten und kreativsten deutschen Filmemacher. 

Geboren 1952 als Sohn des Schauspielers Robert Graf und der Schauspielerin und Schriftstellerin Selma Urfer. Studium der Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen München (HFF), danach Regisseur und Autor.

Filme u.a.: „Die Katze“ (1987), „Tatort: Frau Bu lacht“ (1995), „Der Skorpion“ (1997), „Der rote Kakadu“ (2005), „Eine Stadt wird erpresst“ (2006), „Im Angesicht des Verbrechens“ (2008/2009), „Das unsichtbare Mädchen“ (2011), „Die geliebten Schwestern“ (2012), „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (2020).

Auszeichnungen u.a.: Bundesfilmpreis für Regie 1988 und Silberne Lola 2022, mehrere Grimme-, Bayerische und Deutsche Fernsehpreise.