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Bei dem E-Scooter-Unfall vor einem Monat in Frankfurt sterben seine beiden Freunde, Hieu Hoang Trung verliert ein Teil seines Beines. Wie geht es ihm nach dem Unglück?

Frankfurt – Als Hanh Nguyen zu Hause in Vietnam die schreckliche Nachricht hört, dass ihr Sohn Hieu und seine beiden Freunde in Frankfurt auf ihren E-Scootern von einem Autofahrer erfasst wurden, kann sie erst mal nicht sprechen. „Ich stand unter Schock. Ich habe sehr stark geweint.“ Ein 23-Jähriger war Anfang Juli auf der Mainzer Landstraße unter Lachgaseinfluss von hinten in die Gruppe hineingerast. Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen.

Als Hanh Nguyen wieder die Kraft hat zu sprechen, fragt sie die Freundin ihres Sohnes, die sie zuerst informiert hatte: „Wie schlimm ist der Unfall?“ Die junge Frau sagt ihr, dass die Freunde ihres Sohnes, die 23-jährigen Zwillinge Duy Quang und Quang Minh Nguyen, beide tot sind. Ihr Sohn Hieu Hoang Trung wurde auf die Windschutzscheibe des Wagens geschleudert. Der Autofahrer stoppte aber nicht, sondern fuhr mit Hieu auf der Motorhaube liegend weitere 150 Meter, dann wird Hieu auf die Straße geschleudert. Der 27-Jährige erleidet ein offenes Schädel-Hirn-Trauma. Außerdem muss sein Unterschenkel amputiert werden, und er liegt im Koma.

Jeden Tag pendelt die Mutter aus Frankfurt in den Odenwald

Die 52-Jährige entschließt sich, so schnell wie möglich nach Deutschland zu fliegen: „Was ist, wenn mein Sohn auch stirbt, und ich keine Gelegenheit mehr habe, ihn noch mal zu sehen?“ So ihr erster Gedanke. Mit Hilfe ihrer Familie und Behörden bekommt sie in wenigen Tagen ein Visum und landet zum ersten Mal in ihrem Leben in Deutschland.

Hanh Nguyen, die Mutter von Hieu, ist zum ersten Mal in Deutschland. Sie lebt bei The Phong Huynh und seiner Familie in Frankfurt.Hanh Nguyen, die Mutter von Hieu, ist zurzeit in Deutschland. Sie wohnt bei The Phong Huynh in Frankfurt. © Renate Hoyer

„Mein Sohn ist mittlerweile aus dem Koma aufgewacht und nicht mehr auf der Intensivstation“, sagt Hanh Nguyen einen Monat nach dem Unfall. „Aufstehen kann er aber noch nicht.“ Jeden Tag pendelt sie von Frankfurt nach Bad König im Odenwald, um sich um ihren Sohn kümmern zu können. Dort in der Akutklinik für neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation hat er eine Gehirn-OP hinter sich und wird weiter behandelt.

Hanh Nguyen sitzt an diesem Tag im Restaurant Kyoto in der Frankfurter Innenstadt. Sie reißt sich zusammen, wirkt kämpferisch, aber man merkt auch, dass sie fertig ist. Immer wieder werden ihre Augen feucht, als sie von ihrem Sohn erzählt. Hieu kommt vor vier Jahren nach Deutschland, um hier seine Krankenpflegerausbildung zu machen: „Er ist ein sehr fröhlicher, positiver Mensch, und von klein auf hat er sich gerne um Menschen gekümmert, die Hilfe brauchen. Deswegen hat er auch diesen Beruf gewählt“, erzählt die Mutter. Vor dem Unfall pflegte er Patient:innen in Stuttgart in der Neurologie. „Und jetzt liegt er auf der anderen Seite“, sagt The Phong Huynh, der Chef des Restaurants. Der 49-jährige Vietnamese, der als Kind nach Deutschland kam, übersetzt nicht nur beim Interview, sondern auch im Alltag und im Krankenhaus. Hanh Nguyen spricht kein Englisch oder Deutsch. Ihr Bruder lebt seit Jahren in Deutschland und hilft, wo er nur kann. Aber er lebt in Nordrhein-Westfalen.

Im Juni erst war Hieu Hoang Trung erst zu Besuch bei seiner Mutter in Vietnam.Hieu im Juni mit seiner Mutter in Vietnam. © Privat

Um näher bei ihrem Sohn sein zu können, wohnt sie in Frankfurt bei The Phong Huynh und seiner Familie. Bis vor einem Monat waren sie Fremde. „Die vietnamesische Community hier ist aber sehr vernetzt. Als meine Frau My Tran von dem Unfall aus der Presse erfuhr, wollten wir eine Stütze für Hanh in einem fremden Land sein. Wir wollten ihr einen Ort anbieten, wo sie Energie auftanken kann. Für uns ist sie ein Familienmitglied geworden. Unsere beiden kleinen Kinder lieben sie.“

Hanh Ngyuen freut sich über diese emotionale Unterstützung, aber auch über die große Anteilnahme aus der Bevölkerung. „Ich bin sehr dankbar.“ Bei einer Spendenaktion für ihren Sohn, dessen sehr langer Weg zur Rehabilitation gerade erst begonnen hat, und für ihre Lebenshaltungskosten in Deutschland sind mittlerweile fast 200 000 Euro zusammengekommen. In Vietnam arbeitet sie auf selbstständiger Basis als Nanny oder Haushaltshilfe und hat so aktuell kein Einkommen.

Der Autofahrer ist nach dem E-Scooter-Unfall in Frankfurt in Untersuchungshaft

An dem Tag erzählt sie auch, dass sie die vietnamesischen Zwillinge, die vor dem tödlichen Unfall Azubis in einer Hamburger Kieferorthopädiepraxis waren, persönlich kannte. „Mein Sohn hatte sie vor ein paar Jahren in Vietnam kennengelernt, als sie gemeinsam für ihre Deutschprüfung einen Kurs machten. Sie besuchten mich auch zu Hause.“ Als sie sich daran erinnert, sieht man, wie berührt sie ist.

An der Unfallstelle des tödlichen E-Scooter-Unfall in der Mainzer Landstraße  gab es eine Gedenkstätte für die Zwillinge Duy Quang und Quang Minh Nguyen.Gedenken an die getöteten Zwillinge am Unfallort. © Rolf Oeser

Andere Erinnerungen, wie der Grund, warum ihr Sohn in Frankfurt war, seien verschwommen: Die drei jungen Männer waren in dieser Julinacht nur in Frankfurt, weil sie einen Abend zuvor ein Kendrick-Lamar-Konzert im Waldstadion besucht hatten. Als der Unfall passierte, waren sie gemeinsam mit einer Freundin auf dem Rückweg vom Kino ins Hotel. Hanh Ngyuen sagt, dass die Sorge um ihren Sohn gerade im Vordergrund stehe, sie sich aber gleichzeitig immer wieder die Frage stelle: „Ist dem Täter bewusst, was er da angerichtet hat? Zwei junge Menschen sind gestorben, und ihre Familie muss mit diesem Schmerz weiterleben. Mein Sohn kann seine Zukunft nicht mehr so gestalten, wie er sich das gewünscht hat. Auch die Freundin, die hinter den dreien auf einem E-Scooter fuhr, wurde zwar nicht verletzt, aber traumatisiert.“ Bis heute habe sie keine Nachricht des Bedauerns vom Autofahrer erhalten. „Ich wünsche mir, dass er zumindest die Verantwortung für seine Tat übernimmt.“

Dem 23-jährigen Autofahrer, der festgenommen wurde, wird fahrlässige Tötung in zwei Fällen, versuchter Totschlag und schwere Körperverletzung vorgeworfen. Er befindet sich laut Staatsanwaltschaft weiter in Untersuchungshaft.

Hieu kann nach dem E-Scooter-Unfall wieder sprechen

Kürzlich habe ihr Sohn, der bis vor wenigen Tagen nur Laute von sich geben konnte, sie angeschaut, als er realisiert habe, dass er seinen Unterschenkel verloren hat. „Er war immer sehr sportlich. Und seine Augen sagten: ‚Wie soll ich denn jetzt noch Fußball spielen?‘.“ An manchen Tagen sei er sehr unruhig gewesen, habe sich von den Schläuchen zu befreien versucht, und es wirke, als wolle er aufstehen und nach Hause gehen. „Die Ärzte sagen, er ist ein junger Mann, er hat viel Energie. Er will etwas machen“, sagt die Mutter.

„Wir glauben, dass er in Deutschland bessere Berufschancen in der Zukunft hat. Anders als in Vietnam haben hier auch Menschen mit Handicap eine Chance auf dem Arbeitsmarkt“, sagt The Phong Huynh. Wenige Stunden nach dem Interview am Donnerstag schickt er eine Whatsapp-Nachricht. Er und Hanh Nguyen kommen gerade aus dem Krankenhaus. „Die Ärzte haben uns gesagt, dass Hieu sehr gute Fortschritte macht.“

Dann habe er ihm Papier und Stift hingelegt. „Wir haben nicht damit gerechnet, aber er hat tatsächlich stichwortartig mit uns kommuniziert. Er war auch viel besser drauf und hat sich nach seiner Freundin, die in Vietnam lebt, erkundigt.“ Auf Tiktok hat Hieu als (bobbotbienn) mehr als 230 000 Follower:innen und teilte vor dem Unfall neben fröhlichen Playback-Einlagen auch verliebte Pärchenvideos.

„Hieu hat sich gleich auf Social Media eingeloggt und mir ganz stolz ein Foto von seiner Freundin gezeigt. Seiner Mutter war die Freude anzusehen.“ Am Montag berichtet er, dass es noch mehr Grund zur Freude gibt: „Hieu kann wieder sprechen.“ An den Unfall könne er sich nicht erinnern. „Aber als er auf seinem Handy las, dass die Zwillinge gestorben sind, hat er sehr geweint. Er sagte seiner Mutter: ‚Ich habe wirklich sehr viel Glück gehabt.‘“ Auf einem Auge sieht er aktuell kaum. „Er freut sich sehr, dass seine Mutter bei ihm ist. Er ist sehr positiv, will wieder fit werden und nach Hause. Nach Stuttgart.“

Spenden für die Opfer

Anfang Juli starben die vietnamesischen Zwillingsbrüder Duy Quang und Quang Minh Nguyen in Frankfurt bei einem E-Scooter-Unfall. Ein 23-jähriger Autofahrer war auf der Mainzer Landstraße unter Lachgaseinfluss in sie hineingerast. Ihr Freund Hieu Trung Hoang fuhr hinter ihnen und wurde ebenfalls vom Fahrzeug erfasst: Er erlitt ein offenes Schädel-Hirn-Trauma; außerdem musste sein Unterschenkel amputiert werden. Bis vor kurzem lag er im Koma. Jetzt wird er im Odenwald in einer Akutklinik für neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation behandelt.

Insbesondere werden Mittel für spezielle Therapien, Rehabilitation, psychologische Betreuung und medizinische Geräte benötigt. Seine Mutter Hanh Nguyen ist aus Vietnam nach Deutschland gekommen, um bei ihrem Sohn zu sein und sich um ihn zu kümmern. Zur Unterstützung von Hoang Trung Hieu und seiner Mutter, die in Vietnam als Nanny und Haushaltshilfe arbeitet und jetzt ohne Einkommen in Deutschland lebt, wurde ein Spendenaufruf gestartet. Bislang sind fast 200 000 Euro gespendet worden. Unter https://www.gofundme.com/f/reviving-dreams-overcoming-with-hieu kann weiterhin gespendet werden.

Es gab auch eine separate Spendenaktion für die Familie der getöteten Zwillinge, die in Hamburg eine Ausbildung machten. 153 000 Euro kamen zusammen für die Überführungskosten nach Vietnam, die Beerdigung und um die „erheblichen Kosten“ zu begleichen, die durch ihre Ausreise und Ausbildungsaufnahme in Deutschland entstanden seien, hieß es im Spendenaufruf. Und auch um den langfristigen Wegfall der finanziellen Unterstützung abzufedern, die die beiden 23-Jährigen an ihre Familie gesendet hatten. Diese Spendenaktion ist beendet.