Unsere Autorin ist seit Jahren auf Festivals unterwegs – und jedes Jahr mit weniger Lust. Doch nun hat sie in Belgien eine Erfahrung gemacht, von der sich deutsche Veranstalter eine Scheibe abschneiden können.
Gespräche über Festivals drehen sich schnell um deren Schattenseiten: Müllberge und verwaiste Zelte auf den Campingplätzen, überteuerte Tickets und Plastiklandschaften mit Sponsorenlogos. Dazu das Gefühl, inmitten von Photo Booths und interaktiven Spielchen auf dem Gelände eher auf einem Influencer-Event als bei einem Musikhighlight zu sein. Festivals wie das „Lollapalooza“ in Berlin oder das „Superbloom“ in München wirken wie quietschbunte Parallelwelten, perfektioniert für Instagram- und TikTok-Content. Das ist nicht meine Welt, muss es aber auch nicht sein. Es gibt doch schließlich auch noch die guten Rock-Festivals. Oder etwa nicht?
Auch die Line-ups der deutschen Festivals lösen jedes Jahr hitzige Debatten unter eingefleischten Fans aus. Dazu würde ich mich auch zählen, ich fahre seit knapp zehn Jahren regelmäßig zum „Hurricane“ und „Rock am Ring“. Nun kann man es nie allen recht machen, doch hat sich aus meiner Sicht bei den größten Festivals eine gewisse Line-up-Langeweile eingeschlichen.
Auch in dieser Festivalsaison sehe ich die Bemühungen, die aktuellen Trends mit Acts wie Zartmann, Nina Chuba und 01099 zu bedienen, jedoch kommen seit mehreren Jahren auch immer wieder die gleichen Artists. Ich könnte mittlerweile kaum noch sagen, zu welchem Jahr welches Festival-Shirt gehört, die Line-ups klingen irgendwie alle gleich.
Und wenn wir schon beim Lamentieren sind: 239 Euro für ein reines Festival-Ticket plus 79 Euro für einfachstes Camping im Falle von „Rock am Ring“, ist heftig. Wer seine Erfahrung upgraden will, kann sich noch ein Fast-Lane-Ticket zum Vordrängeln in die ersten Reihen kaufen. Auf dem Gelände wird es nicht billiger: Ein unterdurchschnittlicher Burger mit Pommes für 15 Euro und ein halber Liter Bier knapp sieben Euro läppern sich über das Festivalwochenende.
Umso überraschender ist es, wenn man plötzlich auf ein Festival stößt, das sich diesen Trends ganz bewusst komplett entzieht. So geschehen beim „Sjock“-Festival (gesprochen: Shock Festival) im belgischen Gierle.
Mitten auf einer von Birken umrandeten Ackerfläche kann ich keine stringente Marketinglogik erkennen und auf Besuchermaximierung ist dieses überschaubare Festival definitiv nicht ausgelegt. Das „Sjock“-Festival findet nun schon seit fast 50 Jahren statt. Es hätte durchaus das Potenzial gegeben, aus der Marke ein größeres Ding zu machen, denn bekannt ist es bei Punkrock-, Rockabilly-, Garage-Rock- und Surfmusik-Fans aus ganz Europa. Trotzdem erinnert dieses vereinsorganisierte Festival eher an ein generationsübergreifendes Volksfest als an ein klassisches Rockevent. Für 80 Euro ist man das ganze Wochenende dabei, Parken inklusive.
Der vielleicht beste Beweis dafür, dass eine Festival-Community zusammenhält, ist ein sauberer Campingplatz. In Gierle nimmt jeder das nach Hause, was er mitgebracht hat. Den direkten Vergleich habe ich 2025 beim „Hurricane“ und „Rock am Ring“ erlebt. Nach der Abreise türmen sich die Müllberge und etliche Zelte und Pavillons bleiben verwaist zurück.
Keine Taschenkontrollen, keine Bevormundung
Was mich irritiert hat: Am Eingang wurde mein Rucksack nicht kontrolliert. Niemand wollte wissen, ob ich Glasflaschen dabeihabe. Bei Großveranstaltungen wie „Rock am Ring“ undenkbar. Die Gefahr, die von Menschen ausgeht, die Waffen, Pyro oder andere gefährliche Gegenstände aufs Gelände schmuggeln, wäre viel zu groß. Bei einem Festival dieser Größenordnung scheint das aber zu funktionieren. Vor allem wohl, weil man sich einfach aufeinander verlässt. Die freiwilligen Helfer sind Nachbarn, Freunde, Jugendliche und Eltern und das Publikum weiß das zu schätzen.
Müllvermeidung dank Teamgeist
Von „Rock am Ring“ oder „Hurricane“ bin ich es gewohnt, meine Pfandbecher gut zu verteidigen – immerhin werden pro Stück bis zu drei Euro auf den Getränkepreis draufgeschlagen. Beim „Sjock“ geben viele dagegen freiwillig ihre Becher ab und vor allem die Kids sammeln sie. Denn das Festival hat ein schlaues System: Man besorgt sich Tokens an einem Stand, ein Plastikchip ist drei Euro wert. Sammelt man zehn Getränkebecher oder Plastikflaschen, bekommt man einen Token von der Pfandsammelstelle zurück.
Ein paar mal Bücken also und schon hat man sich eine Cola oder ein Bier für drei Euro verdient. Für eine große Portion Pommes braucht es zwei Token – auch noch ein guter Deal. So hält sich das Festivalgelände sozusagen auch von ganz allein sauber. Auch lange Bierschlangen vermeidet das Festival durch die Token-Regel. Trotz Andrang am Stand bekam ich nach etwa einer halben Minute ein Getränk hingestellt, selbst wenn gerade nebenan der Headliner spielte.
Musikalisch liefert „Sjock“ deutlich mehr ab, als man bei einem 80-Euro-Wochenendticket erwarten würde. Allein für einen der Headliner müsste man schließlich heutzutage so viel zahlen. Internationale Acts wie Refused, Melissa Etheridge und Wolfmother teilen sich die Bühne mit Alternative-Bands wie Fidlar, The Undertones und Turbonegro.
Obwohl das vom örtlichen Jugendclub geführte Festival keine Hammergagen zahlen kann, zeigen sich offenbar selbst weltbekannte Bands begeistert von dem Konzept und reisen gern für diese Erfahrung aufs platte Land. Hinzu kommen Geheimtipps aus der Szene, die auf die drei Bühnen des Geländes verteilt werden. So viel Mut zum Booking würde ich mir bei jedem Festival wünschen.
Festivals geht auch anders, wenn man nur will
Das „Sjock“-Festival hat mir gezeigt, wie wenig es braucht, damit ein Festival wieder das ist, was es mal war. Natürlich kann man kein vereinsgeführtes Mini-Festival mit großen Veranstaltungen vergleichen. Die Big Player wollen profitorientiert arbeiten und müssen mit bis zu 80.000 Besuchern auch ganz andere logistische und sicherheitsrelevante Herausforderungen meistern. Durch Sponsoren-Banner und krampfhafter Beschwörung von Festivalnostalgie seitens der Veranstalter lässt sich aber auch kein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl herbeireden.
Auch das „Sjock“ ist inzwischen kein „Geheimtipp“ mehr. Aber es ist für mich ein kleines, aber feines Vorbild, das zeigt: Festival-Kultur geht auch ganz anders. Mein Learning lautet: Vielleicht muss es nicht immer das große, teure Festival sein. Alternativen gibt es in Deutschland und im europäischen Ausland schließlich reichlich.
Kristina Baum