Kontext
Die israelische Armee hat den palästinensischen Journalisten Anas al-Sharif gezielt getötet, weil er angeblich eine Hamas-Terrorzelle geleitet habe. Auch wenn alte Posts von ihm Sympathien für die Hamas nahelegen, fehlen konkrete Belege für diese Behauptung.
Von Alice Echtermann, Cristina Helberg und Melissa Yesil, NDR
Bei einem israelischen Luftangriff im Gazastreifen sind am Sonntag mehrere Journalisten getötet worden, darunter vier Mitarbeiter des katarischen Senders Al Jazeera. Es soll ein gezielter Angriff auf ein Zelt für Journalistinnen und Journalisten vor einem Krankenhaus in Gaza Stadt gewesen sein.
Unter den getöteten Journalisten ist Anas al-Sharif, ein bekannter Al-Jazeera-Korrespondent und einer der wenigen Journalisten, die noch aus Gaza berichteten. Die Vereinten Nationen verurteilten die Ermordung scharf und bezeichneten sie als „schwerwiegenden Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“.
IDF nennt al-Sharif Anführer einer Hamas-Terrorzelle
Kurz nach dem Angriff veröffentlichte die israelische Armee (IDF) auf X verschiedene Vorwürfe gegen den Journalisten: „Al-Sharif war der Anführer einer Hamas-Terrorzelle und führte Raketenangriffe auf israelische Zivilisten und IDF-Truppen aus. Geheimdienstinformationen und Dokumente aus Gaza, darunter Dienstpläne, Listen von Terroristentrainings und Gehaltsabrechnungen, beweisen, dass er ein Hamas-Agent war, der in Al Jazeera integriert war. Ein Presseausweis ist kein Schutzschild für Terrorismus.“
Dazu veröffentlichte das Militär Dokumente, die von der Hamas stammen sollen – angebliche Telefonlisten und Kämpferverzeichnisse. Doch ihre Echtheit kann nicht unabhängig überprüft werden.
Die IDF hatte al-Sharif und fünf weiteren Al-Jazeera-Journalisten bereits im Oktober 2024 Verbindungen zur Terrororganisation Hamas und dem Islamischen Dschihad unterstellt. Sowohl Al Jazeera als auch al-Sharif wiesen das stets zurück. Einer der beschuldigten Journalisten, Ismail Abu Omar, war zuvor im Februar 2024 bei einem Angriff Israels schwer verwundet worden. Ein weiterer, Hossam Barel Abdul Karim Shabat, wurde im März 2024 durch die IDF getötet.
Was zeigen die Dokumente?
Der in den Dokumenten beschriebene al-Sharif soll „Soldat“ und „Teamleiter“ sein, geboren am 3. Dezember 1996 und verheiratet. Das Geburtsdatum und Beziehungsstatus sind nach NDR-Recherchen korrekt, diese Informationen sind im Netz leicht zu finden.
Weiter heißt es einem Dokument, im April 2017 habe er bei einer Explosion während einer Übung Verletzungen an Ohr und Auge erlitten. Seitdem habe er eine starke Hörminderung im linken Ohr, eine Sehbeeinträchtigung des linken Auges, dazu Schwindel und Kopfschmerzen. Das lässt sich auf Basis öffentlicher Informationen nicht überprüfen.
Außerdem soll er seit 2013 bei der Hamas sein – damals wäre al-Sharif erst 16 Jahre alt gewesen. Die Dokumente haben wir übersetzt und von verschiedenen Experten für Nahost und Terrorismus einordnen lassen. Eine Beurteilung bleibt schwierig, die Echtheit lässt sich nicht abschließend verifizieren.
In den Veröffentlichungen der IDF heißt es stets, al-Sharif habe sich als Journalist „ausgegeben“ – tatsächlich zeigt eine Auswertung von al-Sharifs Social-Media-Kanälen aber, dass er in den vergangenen Wochen und Monaten täglich journalistisch gearbeitet hat. Er veröffentlichte im Minutentakt Beiträge über Geschehnisse im Gazastreifen und tauchte mehrfach im Programm von Al Jazeera auf.
Umstrittene Beiträge in sozialen Netzwerken
In sozialen Netzwerken wird währenddessen auch über Äußerungen und Fotos von al-Sharif diskutiert, die seine Nähe zur Hamas belegen sollen. Neben Telegram betrieb al-Sharif Kanäle auf X, WhatsApp, Instagram und Facebook, die Beiträge darin reichen Jahre zurück. Seine Karriere als Journalist begann er 2019.
Eine Analyse seiner Veröffentlichungen auf Telegram zeigt, dass al-Sharif in der Vergangenheit mutmaßlich Sympathien für die Hamas gehegt haben könnte. Er benutzte häufig grüne Herz-Emojis im Zusammenhang mit Beiträgen über die Terrororganisation (Grün ist die Farbe der Hamas). 2021, kurz vor einer anstehenden Wahl, berichtete er intensiv über deren Wahlliste und veröffentlichte ein Foto, auf dem er lächelnd vor einer Menschenmenge mit grünen Flaggen posiert.
Unmittelbar nach seinem Tod wurde im Netz vielfach ein Beitrag von al-Sharif verbreitet, den er am 7. Oktober 2023 veröffentlichte – während des blutigen Angriffs der Hamas auf Israel. Der Post wurde gelöscht, stammt aber nach Recherchen des NDR tatsächlich aus seinem Telegram-Kanal. Darin hieß es: „9 Stunden und die Helden ziehen immer noch durch das Land, töten und nehmen gefangen… Oh Gott, wie großartig du bist.“
Selfies zeigen al-Sharif mit Hamas-Funktionären
Wenige Stunden nach seinem Tod kursierten im Netz außerdem zahlreiche Bilder, die al-Sharif mit verschiedenen Hamas-Funktionären zeigen sollen. Avichay Adraee, der arabische Sprecher der IDF, teilte auf X drei Bilder von al-Sharif mit Yahya Sinwar. Nach Recherchen des NDR veröffentlichte al-Sharif zwei dieser Bilder selbst zwischen 2017 und 2021. Sie stammen offenbar von einem Pressetermin im März 2021 – anlässlich der Wiederwahl Sinwars als Führer der Hamas im Gazastreifen.
Das Dritte von Adraee veröffentliche Bild zeigt al-Sharif in enger Umarmung mit Sinwar und soll den Terrorismusvorwurf belegen. Die Oberbekleidung Sinwars und die einer weiteren Person passen zu Pressefotos des Besuchs des Vorsitzenden des Katarischen Komitees für den Wiederaufbau Gazas, Mohammed Al-Emadi, in Gaza im Januar 2019. Al-Sharif selbst teilte bei Telegram lediglich drei zuvor veröffentlichte Pressefotos. Ob er an der Veranstaltung tatsächlich teilnahm, lässt sich nicht verifizieren. Das Originalfoto mit Sinwar war nicht auffindbar.
Auf dem Telegram-Kanal von al-Sharif findet sich aber noch ein viertes Selfie mit Sinwar, veröffentlicht im September 2020, und ein Selfie mit dem Hamas-Politiker Mahmoud al-Zahar aus dem Jahr 2017. Der Hintergrund der Aufnahmen bleibt offen. Im Januar 2019 dokumentierte al-Sharif auf seinem Telegram-Kanal zudem einen Besuch des Hamas-Funktionärs Fathi Hamad und schrieb dazu: „Ich hatte heute Abend die Ehre, #A_Fathi_Hammad, Mitglied des Politbüros der Bewegung, in meinem Haus zu empfangen. Vielen Dank für diesen Besuch.“
Keine Belege für aktive Mitgliedschaft
Ein Beleg, dass al-Sharif aktiv eine Terrorzelle der Hamas geleitet habe, ist all dies nicht. Ab Dezember 2023 arbeitete al-Sharif als Korrespondent für Al Jazeera, anschließend finden sich solche Beiträge nicht mehr in seinen Kanälen. 2024 wehrte er sich gegen die Vorwürfe auf X: „Ich bin ein Journalist ohne politische Zugehörigkeit. Meine einzige Mission ist es, über die Wahrheit vor Ort zu berichten – so wie sie ist, ohne Vorurteile.“
Christopher Resch, Sprecher für Nahost von Reporter ohne Grenzen, schreibt auf Anfrage: „Wir kennen Anas al-Sharifs Arbeit seit längerem und standen als Organisation immer wieder auch direkt mit ihm in Kontakt. Uns sind keine Hinweise auf eine aktive terroristische Tätigkeit für die Hamas bekannt. Die Belegführung der israelischen Armee halten wir nach den aktuell verfügbaren Informationen für nicht ausreichend, um damit eine gezielte Tötung zu begründen.“
Al-Sharifs Beiträge in sozialen Netzwerken seien ebenfalls kein ausreichender Beleg, dass er seinen völkerrechtlichen Schutzstatus als Journalist verlieren könnte, so Resch. Dieser Schutz durch die Genfer Konvention sei dann verloren, wenn sich ein Journalist aktiv an Kampfhandlungen beteilige. Eine Voreingenommenheit allein genüge dafür nicht.