Im HD-Zeitalter gibt es vermutlich im Kino keine größere Provokation als die Unschärfe. Schließlich wird zurzeit ein Klassiker nach dem anderen für Kino-Wiederaufführungen oder Heimkinoveröffentlichungen zu Tode gefiltert, sodass auch kein Gran Filmkorn mehr in den Bildern zu entdecken ist, die nun so glatt erscheinen, wie sie in Wirklichkeit niemals waren. Der georgische Filmemacher Alexandre Koberidze geht in seinen mehrstündigen Filmen immer wieder aufs Neue zielstrebig in die entgegengesetzte Richtung. Diese kommen nämlich derart pixelig und verschwommen daher, wie es heute auch die billigste Smartphonekamera nicht mehr wagen würde. Ihre Unschärfe ist folglich schon längst nicht mehr mit einer Ökonomie der billigen Produktionsmittel zu erklären. Die Verschwommenheit der Welt, in die Koberidze uns mitnimmt, hat System.
Der dritte lange Film des Regisseurs, der in Berlin an der dffb studiert hat, beginnt mit einem Verschwinden. Nein, eigentlich beginnt er mit einer Sinfonie: Zu der fröhlich-beschwingten Filmmusik seines Bruders Giorgi komponiert Koberidze Bilder von Denkmälern, Fußbällen und Straßenkatzen. Überhaupt ist „Dry Leaf“ ein Film, dessen Bilder immer wieder von den Tieren übernommen werden – von Pferden, Eseln, Kühen, Hunden und Katzen, die sich in der Sonne aalen, über Mauern laufen und durch alle Durchgänge huschen. Vielleicht gehört diese Welt eigentlich den Tieren, und wir dürfen ihnen einfach nur hin und wieder dabei zuschauen, wie sie ihr ganz eigenes Ding machen, weitgehend ungerührt von unserer Anwesenheit.
New Matter Films / Heretic
Irakli (David Koberidze) sucht im ländlichen Georgien verzweifelt nach seiner verschwundenen Tochter – begleitet wird er dabei von Unsichtbaren!
Unser Begleiter durch diese Welt ist Irakli (David Koberidze, der Vater des Regisseurs), der seine verschwundene Tochter Lisa sucht. Das heißt, spurlos ist diese Lisa eben gerade nicht verschwunden – sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Überdies ist sie auch bereits 28 Jahre alt und volljährig, weshalb die Polizei für diesen Fall so gar nicht zuständig ist. Einen Grund für Lisas Abschied vermögen die irritierten Eltern nicht zu erkennen, und so beschließt Irakli, sich selbst auf die Suche zu machen – an all den Stationen, an denen er die als Fotografin tätige Lisa nicht zu Unrecht vermutet. Sie soll nämlich für ein großes Fotoprojekt Fußballplätze in abgelegenen georgischen Dörfern fotografieren. Iraklis Weg führt über verschlungene Bergstraßen, ein bisschen ähnlich vielleicht denen, die man aus den anatolischen und kappadokischen Kinoepen des türkischen Meisterregisseurs Nuri Bilge Ceylan („Auf trockenen Gräsern“) kennt – wobei sie dort deutlich schärfer waren.
„Dry Leaf“ ist ein Roadmovie und ein Naturfilm. Gleichzeitig knüpft er an den verspielten magischen Realismus an, den Koberidze insbesondere in seinem zweiten Film „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ exzessiv zelebrierte. Wo es dort zwei Liebende waren, die sich nicht wiedersehen durften, weil sie am Morgen nach ihrem ersten Aufeinandertreffen jeweils als Andere aufwachten, täuscht der Augenschein in „Dry Leaf“ auf andere Weise. Denn die Welt, durch die wir mit Irakli reisen, ist bevölkert von Unsichtbaren, und selbst sein Reisebegleiter Levani gehört zu ihnen. Wir hören diese Unsichtbaren laut und deutlich und erleben Irakli in der Interaktion mit ihnen, unseren Augen bleiben sie aber verborgen – nicht etwa im Off, jenseits der Kadrage der Filmbilder, sondern einfach nicht da. Anwesend und abwesend gleichzeitig.
Alles, nur kein bekömmlicher Festivalkino-Mainstream
Nun können einem solche Kunstgriffe im Kino ja auch ganz furchtbar auf den Geist gehen, und es gibt eine ganze Unterkategorie des internationalen Festival-Mainstreams, die einen durchaus wesensverwandten magischen Realismus auf das Enervierendste zelebriert. Glücklicherweise hat sich Alexandre Koberidze aber dazu entschlossen, sein Kino in die entgegengesetzte Richtung zu radikalisieren, ohne auf den Einsatz dieser fantastischen Stilmittel ganz zu verzichten.
„Dry Leaf“ ist auf den ersten Blick ein deutlich sperrigerer Film als der durch und durch verspielte Vorgänger – viel mehr roten Faden als die Reise Iraklis braucht er nicht, und viel mehr erzählen als das Land und die Wiesen, die Blätter, den Wind, den Regen und die Tiere will und muss er auch nicht. Das wird vermutlich auch manch einem Fan von Koberidzes früheren Arbeiten zu karg erscheinen – wenn es einem jedoch einmal gelingt, sich auf den minimalistischen Sog von „Dry Leaf“ einzulassen, kann man ihn durchaus nicht nur für den konsequentesten Film im noch jungen Schaffen des Regisseurs halten, sondern auch für seinen schönsten.
New Matter Films / Heretic
Die extreme Unschärfe ist in „Dry Leaf“ inegraler Bestandteil des visuellen und erzählerischen Prinzips.
Es gibt einen Zoom darin, der aus der impressionistischen Unschärfe hinaus tief in die Auflösung der wahrnehmbaren Welt hineinführt – und man darf diesen Zoom durchaus als weit mehr als eine bloße Formspielerei wahrnehmen. Zu Koberidzes erklärten Vorbildern zählt schließlich der große ungarische Regisseur Béla Tárr, und in gewisser Hinsicht hat er mit „Dry Leaf“ seine ganz persönliche Version von dessen letztem Film „Das Turiner Pferd“ hingelegt. Der kargen Apokalypse, dem Verlöschen und dem Nichts stellt der verspielte Humanist jedoch mit leichter Hand ein Weiterleben, eine Heimkehr, eine Wiedervereinigung entgegen. Nichts und niemand ist verloren, solange es noch Straßen gibt.
Fazit: Der dritte große Kinofilm des georgischen Regisseurs Alexandre Koberidzes entscheidet sich bewusst gegen eine Annäherung an den magischen Realismus des internationalen Festivalkinos und für einen spröderen, sperrigeren, aber auch persönlicheren Ansatz. Oberflächlich mag „Dry Leaf“ mitunter karg wirken – wenn es einem aber gelingt, sich auf den ganz eigenen, minimalistischen Rhythmus dieses bezaubernden Roadtrips über die georgischen Dörfer einzulassen, verbirgt sich dahinter vielleicht Koberidzes schönster, unbedingt aber sein radikalster Film.