Es ist 15 Uhr an einem heißen Sommertag in der beliebten britischen Küstenstadt Broadstairs. Das Wasser zieht sich nach der nachmittäglichen Flut langsam zurück, als eine Horde Möwen am Strand einfällt.

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Eine junge Frau im weißen Bikini verscheucht einen der Vögel mit einem lauten Zischlaut, eine andere wirft Sand in ihre Richtung. Unbeeindruckt kommen die Tiere insbesondere essenden Badegästen bis auf wenige Zentimeter nahe, rauschen in gefährlicher Tiefe über ihre Köpfe hinweg. Kreischend stürzen sich einige auf eine Chipstüte und reißen sie in Fetzen, um die Krümel herauszupicken.

Sie sind laut, dreist und teilweise Furcht einflößend: Möwen sorgen in vielen Küstenstädten Großbritanniens seit Wochen für Aufsehen. Unter der Schlagzeile „Fliegende Dreckskerle“ zeigte der Daily Star gar eine Fotomontage eines kreischenden Vogels, ausgestattet mit roten Boxhandschuhen, zur Attacke bereit.

Aus harmlosen „Küstengesellen“ sind aus Sicht vieler Briten aggressive Störenfriede geworden. Wer bei einem Ausflug ans Meer ein Sandwich, ein Softeis oder Fish & Chips in der Hand hält, muss jederzeit mit einem Angriff rechnen, so der Eindruck vieler. Zielgerichtet steuern die Vögel die Beute an, schnappen zu und fliegen dann damit davon.

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In Schottland warnen Politiker inzwischen vor den Folgen der Möwen-Attacken. Die schottische Tory-Abgeordnete Rachael Hamilton sprach von einer wachsenden Belästigung, die ein Gesundheits- und Sicherheitsrisiko darstelle.

Politiker warnt vor tödlichem Möwenangriff

In Eyemouth, einer Hafenstadt an der Südostküste des Landesteiles, seien innerhalb eines Monats gleich mehrere Kinder attackiert und dabei teilweise sogar verletzt worden. Der Konservative Douglas Ross forderte gar, es müsse gehandelt werden, „bevor jemand durch einen Möwenangriff getötet wird“.

So aggressiv die Tiere wirken, so sorgfältig müssen die Maßnahmen abgewogen werden. Denn das Entfernen oder Zerstören von Nestern und Eiern wild lebender Vögel ist verboten – es sei denn, es liegt eine Genehmigung vor. Und: Viele Arten, darunter die Silbermöwe, werden als schutzbedürftig eingestuft.

Einzelne Städte reagieren

Städte wie Scarborough und Whitby an der englischen Nordseeküste setzen deshalb auf einen Mix aus baulichen Schutzmaßnahmen, möwensicheren Abfallbehältern und Fütterungsverboten. Ziel ist es, ein Gleichgewicht zwischen der Verantwortung für die bedrohten Arten und der Sicherheit von Anwohnern und Touristen zu finden.

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Doch warum stürzen sich die Tiere inzwischen immer häufiger am Strand oder der Uferpromenade auf Picknickkörbe und Imbissportionen? Experten erklären das Verhalten der Vögel mit den sich veränderten Lebensbedingungen.

Nahrungsangebot wird knapper

Möwen suchten die Nähe des Menschen unter anderem, weil natürliche Nahrungsquellen im Meer geschrumpft sind und die Fischerei weniger Beifang liefert. Offene Müllquellen, Essensreste und Brutplätze auf Dächern bieten indes Nahrung und Schutz. „Möwen polarisieren: Manche können sie nicht ausstehen”, sagt Neeltje Boogert von der University of Exeter bei Falmouth in Cornwall. „Aber eigentlich ist es widersprüchlich, der Tierwelt vorzuwerfen, dass sie sich in unserem Lebensraum aufhält, wenn wir ihr zuvor ihren genommen haben.“

Während Bürger zunehmend genervt auf die Meeresvögel reagieren, betrachten Wissenschaftler die Entwicklung auch mit Faszination.

Möwen haben bemerkenswerte Fähigkeiten

Studien zeigen: Möwen merken sich die Tagesabläufe von Menschen, kennen die Zeiten, zu denen Mülltonnen geleert werden, und wissen, wie sie unachtsamen Touristen Brote oder Burger entreißen. Dabei handelt es sich Boggert zufolge jedoch um erlerntes Verhalten. Das Stehlen von Essen sei weder angeboren noch instinktiv, sondern werde von den Eltern weitergegeben. Die meisten Silbermöwen zögen es jedoch weiterhin vor, nach natürlichen Nahrungsquellen zu suchen, statt sich an Pommes zu bedienen. Die aggressiven Tiere vergleicht Boogert deshalb mit Fußballhooligans. „Ein paar wenige ruinieren den Ruf der anderen.“

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Die Forscherin hat noch einen praktischen Tipp für Einheimische und Feriengäste auf der Insel, um sich vor Aggro-Möwen zu schützen. Sie rät Strandbesuchern, ihr Essen unter einem Sonnenschirm, einem Dach oder gegen eine Wand gelehnt zu verzehren. Der Grund: Möwen riskierten den Sturzflug auf Burger & Co. eher, wenn sie eine freie Anflug- und Fluchtroute haben. „Können sie ihren Fluchtweg nicht sehen, greifen sie nicht an.“