Warum luvte Holcim PRB plötzlich an?

Holcim PRB lag klar voraus, leewärtig versetzt zu Allagrande Mapei Racing, die schnell von hinten aufkamen. Auslöser der Kollision war ein relativ schnelles Anluven von Holcim PRB. Warum dieses Anluven passierte, ist unklar. War es eine falsche Kielstellung oder ein Überläufer auf der Genuaschot? Boris Herrmann meint, in den Videos gesehen zu haben, dass der Kiel nach Lee geschwenkt war, andere meinten, ihn mittig gesehen zu haben. Das kann bei dem zunächst leichten Wind von Vorteil sein.

Dann jedoch bekam das Boot eine stärkere Bö, für die zu viel Segelfläche gesetzt war. Kommentator Timmy Kröger meint im Video mit den Aufnahmen unter Deck gehört zu haben, dass der Genuatrimmer rief „ich kann nicht öffnen“, was dafür spräche, dass es einen Überläufer auf der Schot gab.

Beide Aspekte, oder nur einer davon, führten offensichtlich dazu, dass zu viel Segeldruck entstand, das Großsegel von Holcim PRB invertierte bereits, das Profil wölbe sich nach Luv, das Boot krängte zu stark und das Leeruder konnte nicht mehr ausreichend Gegendruck erzeugen. Das Boot luvte unkontrolliert an.

Der Crash aus allen Perspektiven

Hätte Allagrande ausweichen können?

Offensichtlich wurde das Team Allagrande Mapei Racing von diesem Anluven überrascht. Es bretterte mit deutlich mehr Speed von hinten heran und in Holcim PRB hinein. Beide Boote erlitten erhebliche Schäden. Nach dem Regelwerk scheint die Schuldfrage zunächst eindeutig: Lee vor Luv. Holcim PRB hat in Lee liegend Wegerecht, Allagrande muss sich in Luv freihalten.

Konnte Allagrande das jedoch? Im Video ist zu sehen, dass auch Allagrande leicht anluvt. Das ist aber wahrscheinlich derselben Bö geschuldet, in der die Crew alle Hände voll zu tun gehabt haben wird, das Boot unter Kontrolle zu halten.

Holcim PRB muss der ausweichpflichtigen Yacht im Gegenzug genügend Zeit und Raum geben, um sich freihalten zu können. Dieser Teil der Wegerechtsregeln dient dazu, Kollisionen zu vermeiden.

In den Luftaufnahmen ist zu sehen, dass vom ersten deutlichen Anluven von Holcim PRB bis zum Crash etwa zehn Sekunden vergehen. Das ist im normalen Regattageschehen, etwa bei Jollen, eine Ewigkeit. Aber auch für Imocas?

Diese Boote sind nicht für schnelle Manöver vorgesehen. Einmal eingestellt, segeln sie, vor allem im Einhandmodus, stundenlang ohne weitere Veränderungen. Wer die Boote vor dem Start etwa bei den Speedruns beobachtet hat konnte sehen, dass beispielsweise die große Genua J0 für eine Wende immer erst weggerollt und auf dem neuen Bug wieder ausgerollt werden muss. Es sind insgesamt so viele Leinen zu bedienen, dass jedes Manöver durchgesprochen und schrittweise ausgeführt werden muss. Zudem war auch an Bord von Allagrande in dieser Situation vermutlich reichlich Action.

Hätte Allagrande Ausguck halten müssen?

Dennoch erscheint ein Aufschießer von Allagrande, um der Kollision zu entgehen, möglich gewesen zu sein. Direkt nach der Kollision wird schließlich hart angeluvt. Doch dazu hätte die Crew das von unten heranschießende Holcim-PRB-Boot auch sehen müssen. Offenbar haben sie es nicht, jedenfalls zeigen die Aufnahmen keinerlei Versuch eines Ausweichens.

Allerdings ist es bei diesen Booten so, dass man in einer solchen Situation nichts in Lee wahrnimmt. Die riesige Genua liegt mit dem Unterliek fast auf dem Wasser und bildet ohne Fenster eine undurchsichtige Wand. Auch unter dem Großbaum kann man bei Krängung von Luv aus nicht hindurchsehen. Das ist zwar bei allen größeren Regattayachten so, bei den Imocas kommt jedoch ein erschwerender Punkt hinzu.

Die Boote sind so gebaut, dass sie unter Deck bedient werden, um die Crew oder bei Solorennen den Skipper vor rauen Umweltbedingungen wir Sturm und überkommende Seen, vor allem im Southern Ocean, zu schützen. Beim Ocean Race Europe wird mit vier Crewmitgliedern plus Bordreporter gesegelt. Zwei Crewmitglieder befanden sich unter Deck, um die Schoten und den Grinder zu bedienen, der Steuermann saß in Luv, zusammen mit dem Bordreporter, das verbleibende Crewmitglied befand sich ebenfalls am luvwärtigen Ausguck mit Blick nach vorn. Keiner konnte die Lage in Lee überschauen, dazu hätte jemand achtern in Lee sitzen müssen. Warum saß dort niemand?

Sind die Skipper überfordert?

Offensichtlich hat an Bord von Allagrande niemand mit einem Aufschießer von Holcim PRB gerechnet. Was nicht ganz unerklärlich ist, wenn man sich die Vita der meisten Segler anschaut. Die wenigsten kommen aus dem Jollensegeln, wo solch enge und plötzliche Situationen normal sind und die Aktiven vorbereitet und geschult für so etwas. Es sind Langfahrtsegler, die, einmal unterwegs, oft über mehrere Tage kein anderes Boot sehen und sich auf die Technik verlassen müssen, wie AIS oder das im Masttopp montierte Anti-Kollisionssystem Oscar.

Nur hat diese Technik wohl im Wust an Zuschauerbooten, welche die Starter begleiteten, wenig genützt, wenn überhaupt jemand Zeit hatte, auf die Monitore zu schauen.

Eine ähnliche Situation gab es bereits beim vorangegangenen Ocean Race Europe, als es vor Den Haag nach dem Start zur siebten und letzten Etappe zur Kollision zwischen den Spitzenreitern vom US-Team 11th Hour Racing und Team Guyot kam. Auch damals war unverständlich, wie die ausweichpflichtige Crew von Guyot den Konkurrenten übersehen konnte.

Anscheinend sind entweder die Crews nicht ausreichend geschult für das Segeln mit diesen Booten in engen Boot-gegen-Boot Situationen, oder aber die Boote sind einfach so anspruchsvoll zu segeln, dass die Crew mit zu vielen Aufgaben gleichzeitig konfrontiert wird. Nicht umsonst hatten die Skipper vor dem Start vor genau solchen Situationen gewarnt.

Hatte Allagrande ausreichend Raum zum Freihalten?

Ein weitere Frage, welche die Jury beschäftigen könnte, ist die Enge des Kurses. In Luv aller Boote lag eine Armada an Zuschauerbooten. Einige der anderen Teams hielten sich wohlweislich weit in Lee dieser Flotte. Allagrande lag am weitesten in Luv, geschätzte 100 Meter in Lee der Flotte, einige Begleit- und Presseboote noch dazwischen. Es kann gut sein, dass die Crew von Allagrande zwar gesehen hat, dass der eigene Kurs recht dicht am Kielwasser von Holcim PRB lag, und nur deren Kielwasser konnten sie sehen. Dass sie sich aber nicht noch weiter nach Luv trauten, um nicht zu dicht an die Zuschauer- und Begleitboote zu geraten. Und damit in Kauf nahm, nicht mehr auf den Konkurrenten reagieren zu können, falls es nötig sein sollte.

Nach der Kollision war dann auch zu sehen, dass Holcim PRB in den Wind schoss und vorerst in die Zuschauerboote hineinfuhr, die wild auseinanderstoben.

Insofern wäre für die Jury auch zu erwägen, ob es sich bei der Zuschauerflotte um ein Hindernis handelte, von dem sich Allagrande freihalten wollte. In diesem Fall wäre dann wieder die Frage, ob Holcim PRB sie wegen des Aufschießers am Freihalten hinderte.

Es ist also keine leichte Aufgabe für die Jury, ihre Entscheidung, und vor allem die Begründung, dürfte interessant werden.

Lehren aus der Kollision?

Es ist natürlich immer leicht, vom Sofa aus und im Nachhinein zu urteilen. Aber da es nun schon zum zweiten Mal zu einer folgenschweren Kollision kam, die Einfluss auf den Rennverlauf nahm und in diesem Fall wohl nehmen wird, stellt sich schon die Frage, wie so etwas zu vermeiden ist. An der Art zu starten, mit kurzer Linie und umringt von Zuschauerbooten, könnte man etwas ändern, die Boote weiter draußen starten lassen, wo mehr Platz gewesen wäre. Das würde aber auch viel vom Reiz der Veranstaltung nehmen, der sich gerade aus dieser Nähe zu den Fans begründet.

Aber wie wäre es mit einem zusätzlichen Beobachter an Bord? Ein Crew- oder Jurymitglied, das in Lee sitzt und die Konkurrenz beobachtet? Und dann, nach einer gewissen zuvor festgelegten Distanz, wenn sich alles entzerrt hat, von Bord springt? So wie es Kiels Oberbürgermeister von Bord der “Malizia” kurz vor dem Start tat? Allerdings bestünde dann auch die Gefahr, von einem von hinten kommenden Teilnehmer überfahren zu werden.

Auch in diesem Punkt wird es also für die Veranstalter noch einiges zu überlegen geben.