„In der Wohnung von Klaus Pramann geht es zu wie bei einem mittleren Reisebüro. Ständig klingelt das Telefon, Ferngespräche nach Italien, München oder Kopenhagen dürften der Post erfreuliche Einnahmen bescheren“, berichtete am 31. Juli 1985 der WESER-KURIER über die Vorbereitungen für ein Vorhaben, das bundesdeutsche Psychiatriegeschichte schreiben sollte – die „Blaue Karawane“. Der Waller Psychiater Klaus Pramann war damals 38 Jahre alt und arbeitete als Facharzt in der Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg. Er gehörte zu den Initiatoren des Protestzuges, in dessen Folge später unter anderem das Blaumeier-Atelier in Walle gegründet wurde und das inklusive Wohnprojekt Blauhaus in der Überseestadt entstand.

Wer waren die rund 60 Bremerinnen und Bremer, die sich im August 1985 als erste Blaue Karawane mit einer viereinhalb Meter hohen Stadtmusikantenskulptur aus Pappmaché in Triest mit einer italienischen Gruppe trafen, um sich dann gemeinsam in Richtung Bremen auf den Weg zu machen? Was wollten sie mit der Protestaktion erreichen, was haben die Mitglieder dieser ungewöhnlichen Reisegesellschaft unterwegs erlebt und wie oft ist die Karawane im Laufe der Jahre eigentlich schon losgezogen? Antworten auf diese und andere Fragen gibt es an diesem Sonntag, 17. August, auf dem Bremer Marktplatz. Dann nämlich werden dort 40 Jahre Blaue Karawane gefeiert. Als besonderen Clou haben sich die Organisatoren einen Live-Filmdreh vorgenommen: Vor laufender Kamera spricht die Waller Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Musikerin Frauke Wilhelm mit ehemaligen Psychiatriepatienten, Ärzten, Betreuern und Künstlerinnen, die 1985 beziehungsweise bei den daran anschließenden Karawane-Aktionen dabei waren.

Die Geschichte beginnt mit Kloster Blankenburg

Blau ist die Farbe der Sehnsucht –  in diesem Fall nach einer Welt ohne geschlossene Anstalten. Die Geschichte der Blauen Karawane beginnt mit der Auflösung der Bremer Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg ab 1981. Verantwortlich dafür war Bremens damaliger Gesundheitssenator Herbert Brückner. „Im ehemaligen Kloster Blankenburg bei Oldenburg waren auch Patienten aus Bremen untergebracht. Von einem Besuch kam ich wie betäubt zurück. Mir war klar: Das müssen wir ändern“, schilderte Brückner 2022 in einem Interview im WESER-KURIER. „Die psychisch Kranken waren damals alle entmündigt, wir wollten sie wieder selbstständiger machen. Wir haben sie in kleinen Häusern in der Stadt zusammengelegt, immer fünf bis zehn Personen mit einem Pfleger. Zehn Jahre hat es gedauert, bis alles abgeschlossen war. Mit ­Henning Scherf als Sozialsenator war diese ­Aufgabe gut zu bewältigen.“

Die bremischen Anfänge der Psychiatrie-Reform waren vielversprechend und zogen Fachpersonal von außerhalb nach Bremen – Engagierte, die unbedingt bei der Geburtsstunde einer neuen Psychiatrie mit dabei sein wollten und Pramann zufolge darauf hofften, „an einem Prozess der Auflösung der Strukturen einer von Unterdrückung und Hospitalismus geprägten Anstaltspsychiatrie beteiligt zu sein.“ Bald zogen die ersten Patienten in Wohngemeinschaften um und es wurde ein Träger für betreutes Wohnen – die Initiative zur sozialen Rehabilitation – gegründet. Patienten, Betreuer und Freunde knüpften Kontakte zum italienischen Triest, wo in den 1970er-Jahren die psychiatrische Anstalt „San Giovanni“ komplett aufgelöst worden war.

Während in den Anstalten im Rest Deutschlands alles weitgehend beim Alten blieb, sei der Reformprozess in Bremen dann leider bald in eine andere Richtung gelaufen, als von ihm und seinen Mitstreitern auf der „Rehabilitationsstation“ von Kloster Blankenburg erhofft, erzählt Pramann. „Wir wollten es wie in Triest, aber von der Bremer Klinikleitung war keine Orientierung am Triestiner Modell gewünscht. Und für die Zukunft der Blankenburger Patientinnen und Patienten waren nicht mehr Wohnungen, sondern neue Heimeinrichtungen geplant.“

Dies habe das Ende der Träume von einem Prozess der „Deinstitutionalisierung“ bedeutet, so Pramann: „Aber die Träumer hatten eine Idee.“ So sei im Auto auf der Rückfahrt von einem ihrer Triest-Besuche die Idee einer Karawanenreise von Süden nach Norden durch deutsche psychiatrische Krankenhäuser entstanden: „Als Protestzug gegen die Klinikpsychiatrie, und zwar sowohl in der Form ihrer alten, hässlichen Anstalten als auch in ihrem modernisierten, neuen Kleid.“ Die Spitze der Karawane sollten das international bekannte große blaue Pferd Marco Cavallo als Befreiungssymbol der italienischen Psychiatriebewegung und die Bremer Stadtmusikanten bilden.

Vier Wochen durch die Bundesrepublik gezogen

Den Pappmaché-Esel, mit dem die Karawane 1985 loszog – und natürlich auch Hund, Katze und Hahn – gibt es bis heute. 1994 löste das riesige blaue Kamel Wüna die Stadtmusikanten als Symbolfigur ab.

Den Pappmaché-Esel, mit dem die Karawane 1985 loszog – und natürlich auch Hund, Katze und Hahn – gibt es bis heute. 1994 löste das riesige blaue Kamel Wüna die Stadtmusikanten als Symbolfigur ab.

Foto:
Roland Scheitz

Schon bald fingen also Patientinnen und Patienten an, gemeinsam mit Künstlern, arbeitslosen Lehrern und Studenten an der Uni Oldenburg die Bremer Stadtmusikanten aus Pappmaché nachzubauen, schildert Pramann: „Das haben wir als Beschäftigungstherapie getarnt.“ Am 1. August 1985 startete ein 40-Tonnen-Lkw mit den vier Figuren an Bord in Richtung Italien. Vier Wochen lang zog nun die Karawane, die von zwei Fernsehteams begleitet wurde, quer durch die Bundesrepublik. Dabei besuchte sie psychiatrische Anstalten beziehungsweise Kliniken in München, Wiesloch, Herborn, Bonn, Gütersloh, Bethel, Hamburg-Ochsenzoll, Blankenburg und Bremen-Ost, um dort mit Patienten und Personal ins Gespräch zu kommen.

Zurück in Bremen organisierte die Karawane unter dem Motto „Gesellschaft ohne Irrenhaus“ einen internationalen Kongress im Schlachthof und gründete in einer ehemaligen Bonbonfabrik an der Travemünder Straße das Blaumeier-Atelier. „Oben haben wir ein Café gemacht und unten war Theater. Da war täglich was los“, erinnert sich Anne Pramann. Viele Jahre lang war sie das Gesicht des Café Blau, das 2003 mit dem frisch gegründeten Verein Blaue Karawane in Klaus Hübotters Speicher XI umzog. Immer wieder machte sich die Karawane in den darauffolgenden Jahren auf den Weg, um zum Nachdenken darüber anzuregen, wie die Gesellschaft solidarischer und bunter werden kann – seit 1994 mit dem riesigen blauen Kamel „Wüna“ als Symbolfigur.

Info

40 Jahre Blaue Karawane – das wird am Sonntag, 17. August, von 14.30 bis 17 Uhr auf dem Bremer Marktplatz gefeiert. Dort erzählen beim Filmdreh von „Wir schaffen das Ma(h)l“ verschiedene Beteiligte von ihren persönlichen Erlebnissen mit der Blauen Karawane. Dazu gibt es Quark und Kartoffeln.

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