Der europapolitische Streit zwischen CSU und CDU nützt im Moment eher Horst Seehofer, sagt der Passauer Politologe Heinrich Oberreuter im Gespräch mit EURACTIV.de. Die Zuspitzung des Konflikts gehöre zu Seehofers Strategie vor der Bundestagswahl. Europa werde aber auch der bayerische Ministerpräsident nicht bremsen können.

EURACTIV.de: Die CSU verlangt mehr Kompetenzen für Bundestag und Bundesrat in der Europapoltik und bringt die CDU gegen sich auf, die Deutschlands Isolierung in der EU fürchtet. Was treibt CSU-Chef Horst Seehofer zu seiner Europapolitik?

OBERREUTER: Landespolitisch und parteipolitisch betrachtet, ist es eine Fortsetzung der CSU-Strategie nach dem Motto: „Wir, die CSU, bringen die Stimme Bayerns auf allen Ebenen zu Gehör.“ Das hat sich bei der Europawahl bewährt und erfährt jetzt die Zuspitzung. Man will via Bundesrat als Land in europapolitischen Entscheidungen stärker mit berücksichtigt werden.

Verfassungspolitisch betrachtet, ist es von der Grundidee ja nichts Neues. Denn seit langem wird die Diskussion geführt, dass sich Bundestag und Bundesrat europapolitisch doch deutlicher positionieren müssen und – wenn sie schon Kompetenzen zu Hauf abgeben – stärker in die Willensbildung der Bundesregierung eingeschaltet werden müssen.

EURACTIV.de: Sind die CSU-Forderungen realisitisch oder nur Machtspielchen?

OBERREUTER: Realistisch ist es überhaupt nicht zu glauben, man könnte die Bundesregierung mit einem imperativen Mandat ausstatten. Das ist auch Unsinn, denn die Regierung verhält sich ja europapolitisch im Rahmen ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit. Sie verhält sich auch im Rahmen ihrer Koalitionsverantwortlichkeit, und sie verhält sich auch im Rahmen ihrer Verantwortung gegenüber der eigenen parlamentarischen Basis.

Interessant ist der Appell nach innen. Die Europagremien des Bundestags und der Landtage, die Europaausschüsse, müssten ihre Aufgabe endlich mal ernst nehmen. Dann hätten wir auch für die Bundesregierung bessere Gesprächspartner.

EURACTIV.de: Ist es ein abgekartetes Spiel der Union, dass die CDU mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl die große Europapartei ist und die CSU gleichzeitig alle Europaskeptiker um sich scharen möchte?

OBERREUTER: Wenn man zur Kenntnis nimmt, wie zornig derzeit die CDU und auch die Kanzlerin auf die bayerischen Vorstöße reagiert, kann man von einer koordinierten Vorgehensweise oder einem abgekarteten Spiel nicht sprechen. Die Bayern sind ja nicht prinzipiell europaskeptisch. Man darf sie nicht etwa mit dem polnischen Ministerpräsidenten Kaczynski vergleichen. Aber die Bayern setzen ihre Linie fort, die ihnen gleichsam vom Selbstverständnis her eingesengt ist. Sie haben von allen deutschen Bundesländern die größte Vorstellung von eigener Staatlichkeit, und sie sind gegenüber diesen Kompetenzübertragungen, die nicht durch Mitentscheidungsmöglichkeiten kompensiert worden sind, schon immer skeptisch.

Im innerstaatlichen Föderalismus haben sie es deswegen ausgehalten, weil dessen Entwicklung nicht zu Ungunsten der Landesregierungen gegangen ist, sondern immer nur zu Ungunsten der Landesparlamente. Deshalb hat die Staatsregierung an zentralstaatlicher Mitentscheidungskompetenz gewonnen, und die Landtage haben immer mehr an Kompetenz verloren.

Was Europa betrifft, gibt es ja keine Kompensation, außer in ganz speziellen Fällen. Wo der Bund Landeskompetenzen nach Europa überträgt, wird der Bund im Europäischen Rat durch einen Ländervertreter repräsentiert. Das ist das einzige, aber das ist sehr dünn. Es ist in der Tat ein Kampf um die Erhaltung von Länderkompetenzen und eigener bayrischer Staatsqualität.

Ob man den Kampf in der Argumentation vielleicht etwas geschickter führen soll, ist eine andere Frage. Man müsste dann in der Auseinandersetzung deutlicher machen, worum es eigentlich geht. Soweit ich das jetzt überblicke, gelingt es den Bayern gegenwärtig nicht, das verfassungsrechtliche Problem zu verdeutlichen. Sondern es kommt in der Öffentlichkeit so an, wie Sie sagten: als Machtspiel. Das ist für eine verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Position nicht nützlich.

Da müsste man nachlegen und sagen: ‚Liebe Leute, über 50 Prozent der verbindlichen Regeln sind Europarecht, in manchen Sparten wie etwa in der Wirtschaft sogar 70 oder 80 Prozent. Die demokratische Legitimation von Mitbestimmung der Parlamente von Bund und Ländern verdünnisiert sich immer mehr. Dagegen richtet sich unsere Initiative.‘  Aber dieses Argument hab ich bisher noch gar nicht gehört.

EURACTIV.de: Der Streit hat die Ebene von CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt und dem Europaabgeordneten Elmar Brok verlassen und die Ebene Horst Seehofer versus Angela Merkel erreicht. Da lässt sich nichts mehr verheimlichen?

OBERREUTER: Wenn Brok Dobrindt vorwirft, keine Ahnung zu haben, ist das Zerwürfnis auch öffentlich evident. Ich habe nicht den Eindruck, dass Frau Merkel oder Herr Seehofer Interesse haben, ihre Diskrepanzen unter den Teppich zu kehren. Wobei es im Augenblick dem Ministerpräsidenten mehr nützt. Die starke Akzentuierung der bayrischen Position hat sich ja schon bei der Europawahl ausgezahlt. Merkel hat kein Interesse daran, das zu schüren, aber auch kein Interesse daran, es verborgen zu halten.

Wenn ich es recht sehe, wird in dem Streit ja auch mit gezinkten Karten gearbeitet. Dobrindt verlangt die Rückübertragung von Kompetenzen. Brok sagt: ‚Schwachsinn, das steht doch alles im Lissabon-Vertrag.‘ Doch was im Lissabon-Vertrag drinsteht, ist nur die Eröffnung der Möglichkeit, Kompetenzen zu übertragen. Aber es steht nicht eine einzige Kompetenz konkret drin, die auf die Nationalstaaten übertragen werden soll! Also insofern argumentiert auch Brok mit der halben Wahrheit.

EURACTIV.de: Wie wird sich der Streit auf das Verhältnis der Schwesterparteien untereinander auswirken?

OBERREUTER: Vor der Bundestagswahl ist das Verhältnis an mehreren Stellen angefahren, speziell in der Steuerpolitik, wo man sich nicht zur Harmonisierung in der Festlegung von Fristen für versprochene Steuersenkungen durchringen konnte. Es wird realistischerweise ein großer Differenzpunkt sein, dass zum ersten Mal seit langem die CSU mit einem eigenen ergänzenden Wahlaufruf neben dem Programm der beiden Schwesterparteien in den Wahlkampf geht.

Darin wird sie auch ihre Position für mehr Mitbestimmung in Europa festhalten. Andererseits kann auch die Kanzlerin nichts dagegen haben, dass bisherige Europakompetenzen der Parlamente besser ausgeschöpft werden.

EURACTIV.de: Soll man den Streit positiv sehen, indem jetzt wenigstens über Europa debattiert wird?

OBERREUTER: Das wäre zu optimistisch, denn es wird ja auch jetzt nicht über Europa debattiert, nur über die innenpolitischen Implikationen dieses Vorstoßes. Gerade das vermisse ich aber. Wenn man für das komplizierte Gespräch auf der Mehrländerebene – Länder, Bund, Europa – öffentliches Verständnis wecken möchte, müsste man die Diskussion anders führen und den Gegenstand besser beschreiben. Es ging ja nur um ein Machtspiel im Vorfeld der Bundestagswahl. Aber das Thema ist viel zu ernst, als dass es auf diese Dimension zusammenschrumpfen dürfte.

Ich glaube auch, dass eine Überdehnung der Europazentrierung dem Europagedanken, der ja sehr kostbar ist, eher schadet. Die Leute wollen doch,  dass die Entscheidungen, Verbindlichkeiten, die Rechtsregeln, die für sie gelten, in einer Nähe zu ihnen diskutiert und legitimiert werden. In diesem Kontext ist der Vorstoß nicht unwichtig. Aber ob gerade im Umfeld eines Wahlkampfs die Ernsthaftigkeit sichtbar gemacht werden kann, ist sehr offen.

EURACTIV.de: Wie positioniert sich denn Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in diesem Spannungsfeld zwischen Kabinettsdisziplin in Berlin und Loyalität zur CSU?

OBERREUTER: Zu Guttenberg hat sich hier nicht positioniert. In der Wirtschaft war und bleibt er sehr eigenständig, aber in diesem Streit würd ich ihn aus diesem Spiel raushalten. Er wäre auch nicht gut beraten, sich da zu positionieren und einzumischen, dazu besteht noch kein Anlass. Warum soll er freiwillig auf dieses verminte Feld treten? Es reicht, wenn er in seinem Amt standhaft und unbeugsam bleibt.

EURACTIV.de: Wo wird man Seehofer einst in den europäischen Geschichtsbüchern finden? Als den Retter oder als den Verhinderer?

OBERREUTER: Sicher nicht als Retter. Nur wenn seine Positionen beitragen würden, wirklich ernsthafte verfassungspolitische Probleme zu klären, hätte er Verdienste. Und als Verhinderer? Dazu reicht die Kraft nicht. Bayern wird Europa nicht aufhalten.

Interview: Ewald König

Zur Person:

Prof. Dr. Heinrich Oberreuter (66) ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft I an der Universität Passau und Experte für CSU-Fragen. Sein Lehrstuhl ist eines der Zentren der Parlamentarismusforschung in Deutschland. Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing sowie Direktor des Instituts für Journalistenausbildung Passau.